Buch des Flüsterns
abrupfen kann, wie bei der Weintraube, den man nicht auf einmal essen kann, wie die Erdbeere, aber man kann sein Blut trinken, wie es die Tuareg in der Wüste nach wie vor mit dem Blut der Lämmer tun, um zu überleben. Der Granatapfel, das verschwiegene Lamm des Herrn.
Und dann die Hausfrüchte. Die Walnüsse, Haselnüsse, Mandeln und Pistazien. Der Walnussbaum war mein erster Lehrer. Ich kletterte auf seine dicken Äste, und wir lasen gemeinsam. Ich blätterte für uns beide die Seiten um, und deshalb blieb mir das Jod auf den Fingern, sein grün-gelbliches Blut, das sich klebrig verdunkelte. Ich wollte Walnussbaum werden, wenn ich groß würde, ich konnte nicht glauben, dass Groß-Sein auch etwas anderes bedeuten konnte als Walnussbaum sein. Es war nicht wahr, später wusste ich es. Der Baum, der zugleich mit mir geboren wurde, war eigentlich eine Birke.
Die Magier waren nicht die Entdecker der Ambra und der Myrrhe, nicht einmal des Goldes oder des Salzklumpens. Auch Harutiun Fringhian, der Magier der Früchte, war nicht der Entdecker der Hausfrüchte, der verborgenen Früchte. Diese waren mit meinen Ahnen und mit den orientalischen Düften gekommen, die sie begleiteten, und waren durch alle Türritzen geschlüpft. An unseren Heimatorten hatte alles, das Pilaw, das
Imam-Baiîldîur
mit gehacktem Fleisch in gebackenen Auberginen, die Sarailien 20 und die süßen Gelees, die Halva und die Baklava, den Geschmack von gerösteten Haselnüssen oder Nüssen, und darüber wallte stets das Aroma frisch gemahlenen und auf kleinem Feuer im Kupfertöpfchen mit dem engen Ausguss gekochten Kaffees. Der Sand knirschte zwischen den Zähnen wie die gerösteten und zerstampften Haselnüsse, erinnerte sich Sahag Șeitanian an den Weg der Konvois nach Deir-ez-Zor. Wenn ich vor Hunger ohnmächtig wurde, hatte ich den Eindruck, die Sanddünen seien Haufen gemahlener Nüsse und Haselnüsse oder Grießhalva, in dem kupferfarben die gerösteten Haselnussstücke funkelten. Dieser Spuk nützte uns überhaupt nichts, er minderte den Hunger nicht und verstärkte bloß unseren Durst. Wir besitzen ein Foto mit Großvater Garabet, mit Onkel Sahag, mit meiner Großmutter Arșaluis und ihrer Schwester Armenuhi, dicklich, in Badeanzügen mit Höschen, die ihnen die Schenkel bedeckten, aber die drallen Schultern kann man sehen. Auf der Rückseite steht: Wir bei Carmen Sylva, 1932. Ich konnte dich kaum überzeugen, auf den Sand zu treten, Sahag, lachte Großvater, du gingst auf den Zehenspitzen, wie auf Glut. Es war wie eine Grießhalva, wiederholte Sahag. Wir waren viele, und man brauchte viel Halva, um unser zu gedenken. Selbst die Hitze roch nach gerösteten Nüssen.
Somit begleitete das Aroma gerösteter Nüsse den Schweiß, das Blut, die Erschöpfung der vom Fieber erfassten Hände und Schläfen überallhin. Der Tod, wenn er kam, roch nach gerösteten Nüssen, und wenn wir unserer Toten gedachten, so roch die Erinnerung an sie wiederum nach gerösteten Nüssen, die zerstampft und mit Grießhalva vermischt worden waren.
Von dem Geschenk, das ich bei meiner Geburt bekommen hatte, der Schüssel mit Nüssen, nahm Irițchin Mairig, die Witwe des Pfarrers Dagead Aslanian, jedes Jahr im Mai einige für die Halva zum Totengedenken. Bis 1968, das Jahr, in dem Großvater gestorben ist, reichten die Nüsse zehn Mal für die Gedenkhalva sowie für Großvaters Beerdigung und die Andacht am vierzigsten Tag nach der Beerdigung. Und Großvater hatte beschlossen, dass es damit seine Richtigkeit hat, wenn die Pfarrersfrau, die Witwe des Der Dagead, die Halva zubereitet, denn sie war diejenige, die als Letzte in
Daidais
Testament genannt wurde – also bei Herrn Harutiun oder Hartin, wie er in den rumänischen Akten stand, damit der Name leichter aussprechbar sei.
DIE GESCHICHTE VOM TESTAMENT DES HARTIN FRINGHIAN . Testamente beginnen ihre Geschichte insbesondere nach dem Ableben dessen, der sie, vor den Bedachten verborgen, wie einen Scherz an die Adresse der Nachkommen oder eingekleidet in allerlei kryptische Formeln verfasst hat, damit die Belohnung dem Beharrlichsten oder Schlauesten zufalle, um von den Erbfolgediskussionen ganz zu schweigen. Nun gut, nichts von alledem traf auf das Testament von Daidai zu, von Hartin Fringhian. Mehr als zwei Jahrzehnte haben Hartin Fringhian und sein Testament miteinander gelebt. Als es abgefasst wurde, im August 1938, konnte Hartin Fringhian noch nicht wissen, dass sein Testament mit ihm selbst sterben würde und dass
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