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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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ich hätte schreiben können, denn es gab dort niemanden mehr, der geantwortet hätte. Von den vierzehntausend armenischen Bewohnern der Stadt traf Misak Torlakian im Winter 1915, als er an der Spitze der russischen Armee nach Trapezunt kam, noch zwei Familien an, und diese wühlten mit irren Blicken in den Ruinen ihrer eigenen Häuser herum. Von den vierzigtausend Bewohnern der armenischen Dörfer rings um Trapezunt lebten nur noch etwa tausend versteckt in den Wäldern. Gegen Abend kamen sie heraus und suchten in den verwüsteten Dörfern nach etwas Essbarem, erst einige Monate später trauten sie sich tatsächlich heraus, als sie die Vorhut der russischen Truppen sahen. Was das Wilajet Erzerum betrifft, aus dem mein Großvater Setrak Melichian und Hartin Fringhian stammten, so wurden von den über zweihunderttausend armenischen Bewohnern der drei Städte Erzerum, Erzânga und Bayburt sowie der diese umgebenden armenischen Dörfer, darunter auch das Dorf Zakar, aus der die Familie meiner Mutter stammt, von der russischen Vorhut unter der Anführerschaft Misak Torlakians nur noch zweiundzwanzig Armenier vorgefunden, die sich in eine Kirche geflüchtet hatten und zu Gott beteten, er möge nicht geschehen lassen, was in Urfa geschehen war, wo Armenier, die den Schutz des Altars gesucht hatten, in die Kirche eingesperrt und mitsamt der Kirche bei lebendigem Leib verbrannt worden waren. Die zweiundzwanzig Armenier, zerlumpt, geschwächt vor Hunger und in der Dunkelheit der Krypten beinahe erblindet, wurden von Misaks Freiwilligen in Empfang genommen und über die Grenze nach Jerewan gebracht.
    Sodass Hartin Fringhian im Fühjahr 1916 von den mehr als zweihunderttausend armenischen Bewohnern seines Heimatwilajets Erzerum keinen mehr gefunden hätte, weder einen Verwandten noch einen Nachbarn oder Bekannten, dem er hätte schreiben können. Die osmanischen Autoritäten hatten eine solche Situation schon seit Anfang 1915 vorhergesehen, denn einige Monate, nachdem Fringhian aus Angst vor der Einberufung geflohen war, hieß es im Programm zur Liquidierung der Armenier, das Talaat, Behaeddin und Nazîm entworfen hatten: »Die Familien, aus denen jemandem die Flucht gelingt, werden unterdrückt; es werden Maßnahmen ergriffen, um jede Beziehung zu unserem Land zu vereiteln.« Beinahe ein Jahrhundert später können wir bezeugen, dass der Wali von Erzerum in dieser Hinsicht seine Pflicht getreulich erfüllt hat.
    Der Welt entrissen, in der er aufgewachsen war, mühte sich Hartin Fringhian redlich in der neuen Welt, die ihn aufgenommen hatte, und wurde nach dem Krieg zu einem bedeutenden Kaufmann in Constanța, ja sogar Vizepräsident der Handels- und Industriekammer der Stadt. Er vergrößerte seinen Kolonialwarenladen, dann gründetete er eine Ladenkette und fügte ihr ein paar Großhandelsdepots in der Nähe des Hafens hinzu. Doch als sich die Vorboten der großen Krise zeigten, gelang Hartin Fringhian der Coup seines Lebens. Er importierte unraffinierten Zucker aus Amerika und beschloss, ihn auf eigene Rechnung zu verarbeiten. Also kaufte er der Reihe nach zu Spottpreisen Zuckerfabriken. Zuerst die in Chitila, die er auch deshalb ausgewählt hatte, weil sie beide gleich alt waren – die Zuckerfabrik war 1873 von Nicolae Bibescu gegründet worden. Dann kamen die Fabriken in Timișoara und Arad hinzu. Da er keine eigene Familie hatte, lebte er unter seinen Registern, deren Seiten durch eine vertikale Linie in zwei Hälften aufgeteilt waren, auf der linken Seite wurden mit blauer Tinte die Einkünfte eingetragen und auf der rechten Seite in Rot die Ausgaben, während am Fuße jeder Seite, je nachdem, wie ihm das Glück gesonnen war, in Blau oder Rot der Gesamtbetrag stand. Er war ein guter Dienstherr. Baute seinen Arbeitern Häuser, half ihnen mit Vorschüssen auf ihre Gehälter und mit Krediten, vor allem denen, die Kinder hatten, auch arbeitete er mit ihnen Seite an Seite. In Chitila pflanzte er hinter dem Fabrikgelände eine Obstwiese mit Nuss- und Apfelbäumen, unter denen er gerne spazieren ging, auch pflückte er mit kindlicher Freude Früchte von den Bäumen und aß sie an Ort und Stelle.
    Er wurde sehr reich. Ein Teil seines Vermögens verblieb weiterhin in den Zuckerfabriken, den Rübenfeldern, den Lagerhallen mit unraffiniertem Zucker, im Handel mit Melasse, den er mit Alkoholfabriken und Viehzüchtern abwickelte, in den Kolonialwarengeschäften von Bukarest und Constanța. Was den anderen Teil des Vermögens betraf,

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