Buch des Flüsterns
abgetretenen Schuhen scheinbar ziellos durcheinanderwuselten, weniger Autos und Kutschen als sonst, dafür eilige Passanten und jede Menge Schnüffler. In diesem Augenblick begann Hartin Fringhian sein Testament zu leben. Ein junger Mann hielt ihn an, er hatte mit den Armen vor ihm herumgefuchtelt und ihn vermutlich zum letzten Mal in die Wirklichkeit zurückgeholt. Warum bist du nicht in der Fabrik?, fragte ihn Fringhian, als hätte dies für ihn noch irgendeine Bedeutung gehabt. Ich komme von der Fabrik, versuchte dieser sich zu entschuldigen. Sie haben mich geschickt, Ihnen zu sagen, Sie sollen nicht mehr kommen. Sie haben Leute geschickt, die Sie verhaften sollen. Sie warten auch zuhause auf Sie ... Überall suchen sie nach Ihnen ... Du bist es?, fragte der alte Mann ruhig. Ich bin’s, Ștefan Niculescu, Herr Fringhian. Der Heizer ... Hartin Fringhian nickte verstehend. Du bist es. Bist ein arbeitsamer Junge. Ich habe dich mit einem netten Sümmchen ins Testament aufgenommen. Nutze es gut, mach dir eine Werkstatt auf ...
Der junge Mann nahm ihn am Arm und brachte ihn davon ab, nachhause zu gehen. Dann zog er seine Arbeitsjacke aus und half ihm, sie über seinen eleganten Anzug mit den Seidenrevers zu ziehen. Nachdem er ihn bis zum Matache-Platz und noch ein Stück darüber hinaus, zu den Hotels am Nordbahnhof, begleitet hatte, bat ihn der Mann noch einmal, nicht zurückzukehren, und verschwand. Hartin Fringhian aber, auf einer Parkbank vor dem säulengestützten Haupteingang des Nordbahnhofs, schaute immerzu auf die Manschetten dieser Milde-Gabe-Jacke, speckig war sie und blau, und presste die Aktentasche an die Brust, in der sich das Testament befand, worin fein säuberlich alle Safenummern mit Gold, Geschmeide, Aktien und Depotscheinen aufgelistet waren.
Für einen Mann von fünfundsiebzig Jahren, vielleicht gerade für einen solchen, erwies sich der Wunsch zu leben machtvoller als die Verwunderung. Hartin Fringhian schaute sich wachsam nach allen Seiten hin um, drückte die Arbeiterjacke über seinem Smoking zusammen, betrat die Bahnhofshalle und verlangte eine Fahrkarte nach Focșani. Er kauerte sich auf der Holzbank eines Waggons der dritten Klasse in die Ecke, schreckte jedes Mal hoch, wenn sich die Tür öffnete oder der Zug an einem Bahnhof hielt, schaute verängstigt zu den Militärpatrouillen, die auf den Bahnsteigen herumstanden, und atmete jedes Mal erleichtert auf, wenn der Zug wieder anfuhr. Fringhian wusste nicht, dass er keinen Grund zur Panik hatte, und zwar nicht deshalb, weil etwa das Gerücht, sie wären ausgeschwärmt, ihn zu verhaften, nicht gestimmt hätte, sondern weil die Securitate eine so lange Liste mit Personen hatte, die sie problemlos verhaften konnte, dass ihr der Sinn nicht danach stand, auf der Suche nach ihm übelriechende Züge zu durchstöbern. Sein erster Gedanke war, sich zu ergeben und das Testament vorweisend zu erklären, dass er, seht hier, nicht zu den Ausbeutern zählte, denn er hatte in Punkt zehn seines Testaments niedergelegt, dass die Fabriken nach seinem Tod verkauft und das Geld an die Arbeiter verteilt werden sollte, jedem nach seinem zuletzt bezogenen Gehalt und der Zahl der Jahre, die er in der Fabrik gearbeitet hatte. Aber weil diese ihn für das verhaften wollten, was er zu seinen Lebzeiten getan hatte, und nicht für das, was er nach seinem Tode tun würde, und vor allem weil in seinem Testament auch alle anderen Vermögenswerte aufgeführt waren, die Safenummern und die Banken, in denen diese sich befanden, gab Hartin Fringhian sich geschlagen, woran er auch gut tat, denn weil er noch recht lebendig war, hatte sein Testament überhaupt keinen Wert, und die Fabriken waren ohnehin vom Staat enteignet worden, somit konnte seine Großzügigkeit, sie an die Arbeiter zu verteilen, auch als Versuch gewertet werden, den Staat auszuplündern.
Nach einer mehr als fünfstündigen Zugreise unter einer herumwuselnden, lärmenden und ihm bis dahin unbekannt gebliebenen Menschenmasse gelangte Hartin Fringhian nach Focșani, stieg auf der dem Bahnhof entgegengesetzten Seite aus und ging zu Fuß bis zum armenischen Friedhof, wo er sich unter den Kastanienbäumen vor der Kapelle auf eine Bank setzte. Ausgeschlossen, dass er, während er so dasaß und auf den Einbruch der Dunkelheit wartete, nicht auch Seferians Gruft gesehen und daran gedacht hat, dass er, wenn er dem Rat Tokatlians gefolgt und 1945 weggegangen wäre, sich heute zusammen mit Seferian in Buenos Aires
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