Buch des Flüsterns
befände; er hätte sich mit dem Verkauf seines Geschmeides ein geruhsames Alter sichern oder – warum nicht? – ein neues Geschäft eröffnen können, denn nirgendwo auf dieser Welt ist der Boden so reich, dass nicht auch für die Gewürze des Orients ein Plätzchen wäre. Allerdings würden wir uns täuschen, wenn wir meinten, er hätte irgendetwas bedauert. Ich habe in den Seelen meiner Alten den Schmerz wahrgenommen, Melancholie, genügend ungelebte Leben, aber ich habe sie nie dieses oder jenes bedauern gehört. Sie haben ihr Leben so angenommen, wie es war, taten, was sie glaubten, tun zu müssen, und damit basta. Sodass Hartin Fringhian mit seinen fünfundsiebzig Jahren eher als daran zu denken, wie es sein würde, wenn der Tod kommt, darüber hätte nachdenken müssen, was zu tun war, wenn der Tod sich verspätet. Vielleicht dachte er auch an den alten Seferian, allerdings beneidete er ihn nicht dafür, dass sein Leib am anderen Ende der Welt lebendig herumläuft, während seine Gruft hier leer herumstand, auch wusste er gewiss nichts davon, dass sich in der Gruft statt eines ewigen Lichts ein Porträt von Onik Tokatlian in Galauniform befand. Als es dunkel wurde, ging Hartin Fringhian die Câmpineanca-Straße hinunter, dann an der Bahnschranke vorbei durch die Gerberstraße, an der Kirche vorüber, bog ab in die Schneeglöckchengasse und von da aus durch die kleine Straße, die ihren neuen und für unsere Geschichte sprechenden Namen trug: 6. März 1945, die Einrichtung der ersten demokratischen Regierung.
Was ist mit dir los,
Baron
Harutiun?, muss ihn Großvater, von dieser Erscheinung überrascht, gefragt haben. Und Fringhians Antwort muss auf der Höhe der Überraschung gewesen sein: Ich bin gekommen, mein Testament zu überarbeiten ... Da Fringhian zwanzig Jahre älter war, konnte Großvater mit einigem Recht annehmen, er habe den Verstand verloren. Du hast bis hierher zweihundert Kilometer runtergerissen, um dein Testament zu überarbeiten ... Trotz der ungewöhnlichen Situation wirkte Fringhian äußerst ruhig. Feder und Tinte hab ich, aber ich brauche einen Tisch, an dem ich schreiben kann ... und einen Stuhl, auf den ich mich setzen kann ... Und in Bukarest hast du weder Tisch noch Stuhl auftreiben können? Du siehst ja, dass ich das nicht konnte ...
Großvater Garabet wollte ihn noch etwas fragen, aber der Alte gebot ihm mit einer Handbewegung zu schweigen, setzte sich, zog das Testament aus der Aktentasche, schraubte sein Tintenfass auf und bat darum, allein gelassen zu werden. Was nun keine Schwierigkeit darstellte, denn zu dieser Zeit schliefen schon alle Hausbewohner. Dann legte er sich ein paar weiße linierte Blätter zurecht, tauchte seinen Federhalter in die Tinte und schrieb: »Kodizill«.
Eine Weile lang saß er so da und schaute ins Licht der Petroleumlampe, dann ließ er seinen Blick wieder aufs Testament hinunter sinken und las es gemächlich bis ans Ende durch. Schließlich griff er wieder nach dem Federhalter und schrieb: »Unterzeichneter Hartin B. Fringhian, erhalte mein Testament, das ich am Gericht von Ilfov, Abteilung Notariat, unter der Registriernummer 75075 am 31. August 1938 niedergelegt habe, mit folgenden Änderungen und Ergänzungen aufrecht.« Er kehrte zu Punkt zehn seines Testaments zurück und las mit lauter Stimme: »Ich, der ich sämtliche Aktien meiner Gesellschaften halte, verfüge, dass nach meinem Dahinscheiden die Universalerbin die Vollversammlung einberufen soll, die die Auflösung aller Gesellschaften beschließen wird. Der Betrag, der durch die Auflösung der Gesellschaften erzielt wird, soll unter allen Mitarbeitern, die bei meinem Ableben in den Betrieben arbeiten, nach Maßgabe ihres Bruttomonatslohns aufgeteilt werden.« Worauf er ins Kodizill schrieb: »Die unter Punkt zehn des Testaments vorgesehenen Verfügungen betreffs meiner Gesellschaften, die Zuckerfabriken in Chitila, Timișoara und Arad, werden aufgehoben.« Dann klopfte er an die Tür: Steh auf, sagte er zu Großvater Garabet. Ich brauche einen Zeugen. Soll ich auch Sahag rufen?, fragte Großvater, damit er wenigstens jemanden hatte, mit dem er sich später darüber unterhalten könnte. Nein, Sahag hat ein loses Mundwerk. Also sieh her: Heute von mir verfasst und unterschrieben, 31. Juli 1948, Bukarest. Großvater beanstandete weder das Datum noch den Ort, die beide nicht stimmten, denn in dieser Nacht schien nichts mit rechten Dingen zuzugehen. Damit ich sie verwirre, erklärte Hartin
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