Buch des Flüsterns
geschnürten Pantoffeln verwandelt waren.
Dies ist also das Ende der Geschichte. Und den Anfang hatte ich eben zu erzählen begonnen. Mit dieser zweiten Gruppe von Verhafteten, bei der sich Levon Harutiunian befand, wurde auch unser Onkel Ervant Hovnanian zusammen mit seinem Bruder Vagharșag ausgehoben. Es geschah in der Karwoche. Die armenische Kirche in Focșani hatte einen großen, von riesigen Kastanien umstandenen Hof. Damals gab es viele Armenier, und an Feiertagen füllte sich die Kirche. Sodass der Mann, der Großvater am Ärmel zupfte, nachdem er ihn lange mit dem Blick in der Menge gesucht hatte, sich Platz verschaffen und die missbilligenden Blicke der Leute hatte ertragen müssen. Als Großvater ihm dann in den Kirchhof folgte, traten die Einheimischen brav beiseite. Großvater sah beeindruckend aus in seinen Lehrerkleidern, und die Leute dachten, das gehöre zum Gottesdienst. Der Unbekannte überreichte ihm ein Bündel Papier, das jemand an einer Straßenecke von einem Lastauto geworfen hatte. Es war ein Militärtransporter mit geschlossener Plane. Der Mann hatte Angst, aber er hatte die eilig auf eines der Blätter gekritzelte Bitte erfüllt: »Dem Küster der armenischen Kirche«. Es war Karfreitag, und er hatte sich vorgenommen, eine gute Tat zu vollbringen, ohne seinen Namen zu nennen. Er fragte nicht, was da drin geschrieben stand. Wollte sonst nichts wissen. Es war besser so.
Der Zettel enthielt auch etwas auf Armenisch. Ein einziges Wort: »leben«. Großvater kehrte zurück in die Kirche und nahm unter dem verwunderten Blick von Pfarrer Aslanian den zweiten Küster Sahag Șeitanian beiseite. So, in ihren Gottesdienstkleidern, gingen sie zwischen den seit dem Erdbeben baufälligen jüdischen Krämerläden auf der Hauptstraße entlang zu ihrem Geschäft, wo es ein Telefon gab. Sie riefen in Bukarest an, und ihr Verdacht bestätigte sich. Tante Nvart, Ervant Hovnanians Frau, weinte schluchzend. Sowjetische Soldaten waren in ihr Haus eingedrungen und hatten sie mit dem Gesicht zur Wand geschubst. Alles hatten sie durchwühlt, einen Koffer drunter und drüber mit Karten, Büchern und allerlei Abzeichen vollgestopft. Ervant hatten sie mitgenommen. Ebenso dessen Bruder Vagharșag und acht weitere »Kollaborateure«. Die einen sagten, man habe sie an der Mauer des Klosters Văcărești erschossen, andere wollten wissen, dass man sie in die Keller des Jilava-Gefängnisses geworfen habe. Sie waren zum Kloster geeilt, aber dessen Mauern sahen friedlich aus, und in der Nachbarschaft hatte niemand Schüsse gehört. Das heißt, dass sie nach Sibirien gebracht werden, sagte Großvater, schließlich war dies der einzige Ort, der außer dem Tod noch in Frage kam. Sibirien, Gott bewahre, schluchzte Tante Nvart am Telefon. Sie haben ihn in den Hauspantoffeln mitgenommen; die Füße werden ihm erfrieren ...
Großvater und Onkel Sahag kehrten zurück in die Kirche, wo der Gottesdienst zu Ende ging. Sie berieten sich mit Pfarrer Aslanian und den Mitgliedern des Kirchenvorstands. Der Pfarrer hielt die Kirche geöffnet, damit jeder mit den Schuhen zurückkehren konnte, die er zuhause fand. Ohanes Krikorian zog seine Schuhe aus und stellte sie in die große Kiste. Etwa zehn Paar kamen zusammen. Besser gesagt, zwanzig Schuhe, denn der eine oder andere hatte auch nur einen Schuh mitgebracht. Auch der war willkommen. Großvater stellte sie, hier ein linker, da ein rechter, der Größe nach zusammen und zählte sieben Paare. Auch wenn die Schuhe eines Paares unterschiedliche Farben hatten. Wichtig war, dass sie gefüttert und die Sohlen noch intakt waren. Anton Merzian, der Schuster von der Hauptstraße, hatte sein Schuheisen mitgebracht und verstärkte die Sohlen, indem er kleine Holznägelchen hineintrieb. Vor der Präfektur hatte er einen Laster gesehen, der dem glich, von dem der Unbekannte gesprochen hatte.
In Levon Harutiunians Erinnerungen wird erzählt, dass die Festgenommenen vom Laster absteigen mussten und in ein Zimmer gepfercht wurden, wo sie von bewaffneten Soldaten bewacht wurden. Diese lösten sich ab und zwangen die Häftlinge, die ganze Zeit wach und auf den Beinen zu bleiben. Je müder sie waren, umso leichter waren sie zu bewachen. Die Schwächsten, wie Vagharșag Hovnanian, mussten von den anderen gestützt werden, denn wären sie zu Boden gesunken, hätten die Soldaten sie mit Stiefeltritten wieder zum Aufstehen gezwungen.
Großvater, der korrekt Rumänisch sprach, aber auch Russisch, ging nahe an
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