Buch des Flüsterns
machte seinem Kummer Luft. Eine Anschuldigung, die man damals mit Leichtigkeit in einem mit den Deutschen alliierten Rumänien hätte vorbringen können, aber nicht auch in einer vom NKWD geführten Sowjetunion. Folglich wurde Siruni, krank und zur Hälfte erblindet, wieder ins Lager geschickt, diesmal nach Potma, einem Vernichtungsort. Jeder Fluchtversuch war ausgeschlossen. Wenn genügend Tote zusammengekommen waren, wurden sie auf einen offenen Wagen geschlichtet, aus dem Lager gefahren und in ein Massengrab geworfen. Es gab keine Eile, denn die Leichen konnten aufgrund der Kälte nicht verwesen. Damit kein Häftling sich tot stellt und auf diese Weise zu entkommen versucht, und um sicherzugehen, dass die Toten auch wirklich tot waren, schlugen ihnen die Wachen am Tor die Köpfe mit dem Hammer ein. Potma war zu weit außerhalb der Welt, als dass man dort vom Tode Stalins gehört hätte. Durch Porträts unendlich vervielfältigt, kam Stalins Wesen auch zu einem ins Unendliche vervielfältigten Tod. Eines Tages verschwand das Porträt aus dem Speisesaal. Dann, ein paar Monate später, war auch Berias Foto aus dem Büro des Kommandanten weg. Der anklagende Artikel aus der Zeitung
Araz
von 1944 war nun vorausschauend geworden. Woroschilow persönlich setzte seine Unterschrift auf die Freilassungsverfügung, und Siruni wurde unter Ehrerbietungen nach Jerewan gebracht. Und von dort aus im Jahre 1955 nachhause. Wo sich die Welt völlig verändert hatte. Die Familie war verstreut, das Archiv und die Manuskripte waren beschlagnahmt und die Freunde größtenteils verschwunden. Einer von ihnen, Garabet Vosganian, erwartete ihn auf der Holzbank im Hof, von wo aus er über den Zaun hinweg auf die Fuhrwerke der Geschichte schaute, die beschwert von Kanonenlafetten und von zerlumpten Silhouetten mühsam vorangeschoben, im Straßendreck versanken.
Im
Buch des Flüsterns
sind die Namen der Toten aufgeschrieben. Über sie sprachen Siruni und Großvater Garabet mit schmalen Lippen. Auf die erste, im Dezember 1944 ausgehobene Gruppe folgte am 24. April 1945 die zweite. Der jüngste unter den damals Verhafteten, Levon Harutiunian, starb als Letzter 1999 in Los Angeles. Ich habe die Geschichte von ihm gehört. Großvater wäre es schwergefallen, mir zu erzählen, wie die Armenier dazu gekommen waren, sich gegenseitig zu verraten. Großvater näherte sich jener Zeit ohnehin recht scheu, denn damals hatte er einen der seltenen Impulse zu kämpfen empfunden. Ansonsten hielt er sich so gut es ging beiseite, schaute mit großen Augen zu und versuchte zu verstehen. Aber auch dazu braucht man Mut. Überleg mal, sagte er, du musst gefasst sein, der Wirklichkeit standzuhalten, unabhängig davon, was geschieht. Dein Gesicht gleichzeitig in alle vier Windrichtungen. Und auch dies: Ein Held zu sein, ist eine Form der Feigheit. Du kannst das Leid nicht ertragen und versuchst verzweifelt und um jeden Preis, es abzuwenden. Und doch hat er uns Kinder mit Heldengeschichten erzogen. Erzählte uns vom legendären Haig, über Ara den Schönen und über Tigran den Großen. Er philosophierte auf seine Weise, redete eher so alleine vor sich hin, den Blick auf das Fenster gerichtet: Das Einzige, was den Menschen gemeinsam ist, sind Geschichten. Wenn es heißt, zwei Menschen gehörten zum gleichen Volk, so bedeutet dies, dass sie die gleichen Geschichten gehört haben. Über Helden kann man Geschichten erzählen, denn die haben immer einen Anfang und ein Ende. Von denen, die etwas erleiden, und insbesondere denen, die beim Erleiden etwas begreifen, kann man nicht erzählen, denn ihr Leid hat kein Ende. Und wer könnte Geschichten ohne Ende erzählen, wer wollte sie hören? Auch braucht man dafür nicht zuzuhören, es reicht schon, aus dem Fenster zu schauen. Oder, wie vor Zeiten, von den Festungszinnen herab ... Aber auch Festungen werden geschleift. Und Häuser werden abgerissen mitsamt ihren Fenstern. Das hat nichts zu bedeuten, widersprach Großvater, du findest immer ein Fenster, durch das du schauen kannst. Und es gibt immer mindestens eine nicht eroberte Festung.
Ich wusste damals nicht, dass ich nur das Ende der Geschichte kannte. Das heißt, wir hatten ein paar Schuhe, nicht unbedingt zueinander passende, die wir bei Regen im Hof benutzten. Damit wir sie auf der Türschwelle leichter abstreifen konnten und nicht mit dem Dreck ins Haus traten, hatte Großvater die engsten davon zum Schuster gebracht und die Fersen abtrennen lassen, wodurch sie zu
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