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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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zur Lubjanka, wo die Spreu vom Weizen getrennt wurde. Siruni wurde ohne jeden Prozess ins Arbeitslager von Marijinsk geschickt. Dort war seine Aufgabe, Kiefernharz zu sammeln. Den Blick also zu den Wipfeln zu erheben, wenn Wind und Schneetreiben dich eher gemahnten, dein Gesicht zu schützen. Diejenigen, die diese Fron überlebten, Siruni und der Rechtsanwalt Vahan Ghemigian, ehemals Vorsitzender des Vereins Armenischer Studenten, kehrten mit derart geschwächtem Sehvermögen aus Sibirien zurück, dass sie beim Lesen die Augen ganz tief über das Buch senkten und es aussah, als wollten sie die Wangen in ihren Handflächen vergraben.
    Ich weiß nicht, ob es vor meiner Geburt etwas auf dieser Welt gegeben hat, ja nicht einmal, ob es die Welt selbst gegeben hat. Aber ich erzähle es Ihnen, als hätte es alles gegeben. Es ist der Herbst des Jahres 1952. Die Gefangenen sind im Speisesaal versammelt. Draußen hinter der Küche erhebt sich ein großer Haufen gefrorener Fische. Man hatte sie schon vor ein paar Jahren mit dem Lastkraftwagen herbeigebracht und dorthin gekippt, schon bei der Gründung des Lagers. Zweimal die Woche zerhacken die arbeitsunfähigen Gefangenen mit der Spitzhacke den Fischblock und werfen die glasartigen Splitter in Kessel, wo der Fisch so lange kocht, bis das Eis sich in eine Brühe verwandelt und sich das Fleisch von den Knochen löst. Es ist die richtige Nahrung für die Gefangenen, deren Zähne in den blutenden Kiefern wackeln. Der Fischgeruch friert über dem Putz des in feiertäglichem Glanz erstrahlenden Speisesaals. Eine aus Moskau angereiste Genossin spricht über die gewaltigen Errungenschaften, die auf den Großen Vaterländischen Krieg folgten. Viele von ihnen verstehen kein Russisch, aber sie tun so, als ob sie verstünden. Die Genossin fragt etwas bezüglich der Geschichte der KPdSU. Die Gefangenen reißen vor Angst die Augen auf. Diejenigen, die Russisch können, weil sie nicht wissen, was sie antworten sollen, und die anderen, weil sie nicht wissen, warum die Genossin plötzlich still ist. Dann erhebt Siruni sich von seinem Platz und antwortet. Die Genossin schaut ihn verwundert an, sie hat seinen rauhen kaukasischen Akzent gemerkt und fragt weiter. Und Siruni redet lange über die Situation des Kaukasus zu jener Anfangszeit, reiht Namen auf, Daten, Kriege und Übereinkünfte, all dies mit einer Genauigkeit, die einem bloß der GULAG und die Einsamkeit dort ermöglichen. Zurück in Moskau, berichtet die Frau dem Historiker Evgheni Tarlé, dessen Assistentin sie ist, über die ungewöhnlichen Kenntnisse des Gefangenen von Marijinsk, der darüber hinaus Armenisch, Türkisch, Persisch und Arabisch spricht, und zwar inklusive der mittelalterlichen Sprachformen, die sich nur noch als Sprachen der Kulte erhalten haben.
    Tarlé insistierte dann so lange, bis die Akademie der Wissenschaften in Moskau die Überstellung Sirunis aus dem Arbeitslager an das Geschichtsmuseum von Jerewan erreichte. Nun hatte er den Auftrag, die alten Manuskripte zu entziffern.
    Jeder Mensch lebt in der Welt, aber vor allem in einer Vorstellung von der Welt. Zu jener Zeit – und wer weiß, in wie vielen solchen Zeiten noch – erklärte sich dies kurz folgendermaßen: Dein Name wird zu einem Teil ausgesprochen und zu einem anderen Teil niedergeschrieben. Und der geschriebene Name steht auf einer Akte. Du musst dein Leben umsichtig führen. Wachst auf, erfrischst deine Wangen, rasierst dich, glättest dein Haar. Erblickst du dich in einem Stückchen Spiegel oder in einem Schaufenster, so straffst du die Falten deiner Kleidung. Das Leben ist eine Zeremonie. Die Akte enthält das gleiche Leben, aber dieses verläuft unvorhersehbar. Ein Haus, in dem jedes Zimmer drei Wände hat. Du kannst dich anlehnen, aber du kannst dich nirgends verstecken.
    Auch für Siruni musste eine Akte angelegt werden. Und da sie immerzu in seinem unverhofft verlaufenen Leben herumstocherten, fanden sie in mühevoller Kleinarbeit einen Artikel, den er 1944 in der Bukarester Zeitung
Araz
veröffentlicht hatte und in dem Siruni den Tod eines vor mehreren Jahren in der Sowjetunion heimtückisch ermordeten Freundes beklagte. Die Würdigung des verschwundenen Freundes – er hieß Aghasi Khangian – verwandelte sich in eine Ermittlungsakte gegen Lawrenti Beria, der nun des Mordes angeklagt wurde. Und nicht allein dieses Mordes, sondern noch zahlreicher anderer. Im Unterschied zu vielen anderen wusste Siruni, was in der Sowjetunion geschieht. Und

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