Buch des Flüsterns
durch das Schwert gestorben, und dies hatte ihm die Gelegenheit verschafft, wegzurennen und mit dem Leben davonzukommen. Weil ein anderer für ihn gestorben war, dachte er, dass das Leben, das er lebte, in gewisser Weise nicht ihm gehörte oder nur zur Hälfte, dass es ein geliehenes Leben sei. Weil der andere gestorben war, damit er leben konnte, beglich er diese Schuld, indem er seinerseits für andere lebte. Er lebte für seine Töchter, für Elisabeta, meine Mutter, und für Maro, der er den Namen seiner Schwester gegeben hatte, die im krumenlosen Grab der Euphratwasser bestattet worden war. Er lebte, um den armen Kindern Geschenke zu machen, um vor der Hochzeit die Ladenjungen auszustatten, um die Zerlumpten zu bekleiden und die Hungernden zu nähren. Er brachte den armenischen Kriegsgefangenen aus den Reihen der Roten Armee zur Zeit des Antonescu-Regimes etwas zu essen. Steckte zur Zeit der Legionärsherrschaft Ohrfeigen ein, weil man ihn für einen Juden hielt; allein das Kreuz an seinem Hals rettete ihn vor größerem Übel. Kassierte Ohrfeigen, als das kommunistische Regime an die Macht kam, weil diese ihn für einen Legionär hielten, und diesmal nützte ihm das Kreuz auf der Brust gar nichts mehr, im Gegenteil. Aber wie der Prophet sagt, kehrte das aufs Wasser gesetzte Brot zurück; einer der armenischen Kriegsgefangenen, denen er seine milden Gaben hatte zukommen lassen, kehrte als Offizier der Roten Armee wieder, sodass die roten, mit Ohrfeigen traktierten Wangen und die Beschlagnahmung seiner Geschäfte die einzigen schlimmen Ereignisse waren, die ihm zugestoßen sind, immerhin ließen die Kommunisten ihm eines seiner Häuser und gewährten ihm die Gunst, ihn nicht als Ausbeuter, der er in ihren Augen war, ins Gefängnis zu stecken. Dass man ihm nicht nachweisen konnte, wen er ausgebeutet hatte, steht auf einem anderen Blatt, aber die Kommunisten verstrickten sich nicht in solche Spitzfindigkeiten. Ihnen genügte es, dass Großmutter Pelze trug, dass sie ein Klavier besaßen, sommers zur Erholung nach Olănești fuhren und – aus dem Regen in die Traufe – Großvater sonntags im Pascha-Biergarten Vergnügungen mit Geigerkapellen organisierte. Nachtportier am Lyzeum »Gebrüder Buzești« in Craiova geworden, hatte mein Großvater Setrak in schlaflosen Nächten ausreichend Zeit, über all dies nachzudenken. Auch über die 1942 erhaltene Mitteilung, er würde mit seiner gesamten Familie auf Anordnung des Marschalls im Lager Târgu-Jiu interniert werden, zusammen mit anderen Nansen-Staatenlosen. Die Anordnung wurde zurückgenommen, und Großmutter nahm die Winterkleidung und die Wollstrümpfe für sich und die beiden Mädchen aus dem Koffer, aber sie bewahrte die von Großvater Setrak weiterhin in einem Holzkoffer auf, der nun, nachdem er beinahe ins Lager gesteckt worden wäre, einberufen werden sollte. Er verabschiedete sich von der Familie und reiste im Frühjahr 1944 nach Bukarest, wo seine Karriere als Soldat der rumänischen Armee zusammen mit den anderen Rekruten der Nansen-Kompanie genau drei Tage dauerte. Wie die Kaufmannsmanieren in die Militärstiefel und die eng am Hals geschlossenen Haftel passten, verschweigt uns die Geschichte. Die Kompanie hatte zwei Tage lang exerziert, und am dritten Tag folgte, in den Kasernen rings um den Nordbahnhof untergebracht, die erste Lebendprobe: Sie verfolgten von vis-à-vis die Bombardierung des Bahnhofs. Die Kaserne war zerdeppert, die tapferen zusammengewürfelten Rekruten, eher dazu neigend, Handel zu treiben mit den militärischen Effekten, denn sie für kriegerische Dinge zu verwenden, die ganze aus Armeniern gebildete staatenlos-rumänische Kompanie löste sich von selbst auf; und die Armenier, da sie sahen, dass niemand sie mehr befehligte, machten sich davon.
Sodass Großvater Setrak, der in wenigen Jahren durch so viele verschiedene Zustände gegangen war, der Reihe nach einmal reich und dann arm war, geohrfeigt, zum Juden gemacht, ins Lager gesteckt, einberufen und entlassen, wieder geohrfeigt, verbürgerlicht und entbürgerlicht worden war, diese Welt sehr zu Recht für unbegreiflich hielt. Wer glaubte, die Welt sei anders als vollends unverständlich, hatte nach Meinung meines Großvaters überhaupt nichts kapiert. Und um zu beweisen, wie absurd die Welt ist, lieferte er den letztgültigen Beweis, der ihm zuhanden war, und zwar das Beispiel seines Todes. Erst einmal ließ er sich von einem Auto anfahren, als er vom Alten Markt nachhause ging,
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