Buch des Flüsterns
freuten sich die Frauen, als man ihnen sagte, sie würden einen Teil der Strecke auf dem Wasser zurücklegen, und fühlten sich einer zusätzlichen Mühe enthoben. Aber am nächsten Tag kamen die Kähne leer zurück. Man hatte die Frauen im Meer ertränkt. Das Gleiche geschah in Unieh, in Ordu, in Tripolis, in Kerasunt und in Rize. Aus meinem Dorf, Ghiușana, ist keine einzige Frau mit den Konvois bis nach Mekene, nach Rakka, Ras-ul-Ain oder Deir-ez-Zor gelangt, was nichts anderes heißt, als dass sie alle unterwegs gestorben sind, verhungert, erschossen oder erstochen.
Im Wilajet Kharput, sagte Solomon Tehlirian, wurden im Juni die Notabeln umgebracht, dann hat man in den Städten und Dörfern die Männer ausgehoben. Die Konvois wurden nur mit Frauen, Alten und Kindern gebildet. In Arabkir wurden die Frauen in Kähne verfrachtet und ertränkt. Die Kinder aus dem deutschen Waisenhaus sind im nahe gelegenen See ertränkt worden. Die Frauen aus Mesne, die nach Urfa aufgebrochen waren, sind unterwegs umgebracht und in den Fluss geworfen worden. Auf der Straße zwischen Sivas und Kharput lagen die Leiber der verstümmelten und massakrierten Frauen monatelang an den Wegrändern und in den Schluchten. Es waren zu viele, als dass sie hätten beerdigt werden können. Ihre Skelette waren auch in der ersten Jahreshälfte 1916 noch zu sehen. Von beinahe zweihunderttausend Seelen, die die Konvois zählten, gelangte lediglich ein Zehntel bis nach Ras-ul-Ain und Deir-ez-Zor.
Die ersten Frauen, die nach Meskene, Rakka und Deir-ez-Zor gelangten, so Aram Yerkanian, waren die Leichen, die im Euphrat schwammen. Während des ganzen Juni 1915 bedeckten aufgedunsene Leichen den Euphrat, Köpfe, Arme, Hände und Beine. Ein Durcheinander. Das Wasser des Stromes war rötlich, alles sah so aus, als wäre eben damals der Tod geboren worden.
Der Kreis derer, die Zeugnis ablegten, weitete sich.
Immerzu gibt es Leichen im Euphrat, teilte Rößler mit, deutscher Konsul in Aleppo. Und immer sind die Körper in der gleichen Weise gefesselt, je zwei Rücken an Rücken. Dies beweist, dass es sich nicht um zufällige Hinrichtungen handelt, sondern um einen großangelegten Vernichtungsplan der Behörden. Die Leichen werden den Strom hinab getrieben, und es sind immer mehr. Vor allem Frauen und Kinder.
Über sechshundert Armenier, hatte Holstein, der deutsche Konsul in Mosul, gesagt, vor allem die aus Diarbekir vertriebenen Frauen und Kinder sind während der Transporte auf dem Tigris ermordet worden. Gestern sind die Flachkähne leer in Mosul angekommen. Seit einigen Tagen schwimmen Leichen und menschliche Gliedmaßen im Fluss. Es sind noch weitere Konvois unterwegs, und wahrscheinlich erwartet diese das gleiche Schicksal.
Durch Aleppo ziehen seit Anfang Mai Konvois mit Tausenden Menschen, hatte Guys, der ehemalige Konsul Frankreichs, mitgeteilt. Nach zwei- bis dreitägigem Aufenthalt an extra dafür eingerichteten Stellen erhalten diese Unglücklichen, größtenteils Frauen und Kinder, den Befehl, Richtung Idlib, Mâna, Rakka, Deir-ez-Zor, Ras-ul-Ain, in die Wüsten Mesopotamiens aufzubrechen, an Orte, die unserer Überzeugung nach als deren Grabstätten gedacht sind.
Tausende armenische Witwen aus dem Wilajet Van, so Jackson, der amerikanische Konsul in Aleppo, nähern sich, ohne einen einzigen erwachsenen Mann als Begleiter der Stadt Aleppo; sie sind halbnackt und befinden sich in einem elenden Zustand. Wie die zehn bis zwanzig bisher schon hier durchgekommenen Gruppen bestehen auch diese aus fünfhundert bis dreitausend Personen und führen Kinder in unbeschreiblichem Elend mit sich.
Und wiederum Rößler: Hinsichtlich der Armenier aus Kharput wurde mir berichtet, dass in einem südlich der Stadt gelegenen Dorf die Männer von den Frauen getrennt wurden. Die Männer wurden niedergemetzelt und zu beiden Seiten des Weges, den die Frauen zu gehen hatten, liegen gelassen.
Man könnte glauben, so Aram Andonian, der die Zeugnisse der Überlebenden gesammelt hat, es habe die paar hundert Kinder des Waisenhauses in Deir-ez-Zor nie gegeben.
Erst gegen Ende und am Ziel des Weges glaubten die Autoritäten, die Lösung für ein Problem gefunden zu haben, das bis dahin unlösbar schien: Wie tötet man, ohne dass die Leiber der Toten zurückbleiben? Nicht etwa weil sie sich in irgendeiner Weise schuldig fühlten, sondern weil die Hunderttausende zerteilten Leiber mit schwarz gewordener Haut über den Knochen, die im Wasser trieben oder auf dem Grund der
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