Buch des Flüsterns
Feuer erloschen war, ging sie hinaus. Sie irrte einige Wochen lang umher, bis sie nach Urfa gelangte, fand dort ein paar geflohene Armenier und erzählte ihnen von der Ermordung der Kinder.
Und aus dem dritten Kreis vernimmt man die Stimme von Djemal Pascha.
Der Marineminister ist alarmiert von der Zahl der Leichen, die im Euphrat treiben. Und dann auch empört, dass die Routen der Konvois den Eisenbahnverkehr stören könnten. Nun begriffen die türkischen Autoritäten, dass ihr Vernichtungssystem, so gut es auch ausgedacht gewesen sein mochte, einen Fehler aufwies: Die Leichen der Ermordeten blieben zurück. Ein Mangel, den Reșid Pascha, Präfekt von Diarbekir, mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln zu beheben suchte:
Der Euphrat hat mit unserem Wilajet nicht das Geringste zu tun. Die Leichen, die darin treiben, stammen wahrscheinlich aus den Wilajeten Erzerum und Kharput. Die hier sterben, werden auf den Grund der Höhlen geworfen oder, wie es zumeist geschieht, mit Petroleum übergossen und verbrannt. Selten nur findet sich Platz genug, sie zu begraben.
Wir kehren zurück in den ersten Kreis.
Ihr habt die Orte nicht gesehen, an denen die Konvois zusammentrafen, sagte Hraci Papazian, oder, genauer, was von ihnen noch übrig geblieben war. In Deir-ez-Zor. Tausende aus Lumpen aufgebaute Zelte. Frauen und nackte Kinder, die der Hunger schon so geschwächt hatte, dass ihr Magen keine Nahrung mehr annahm. Um keine Zeit zu verlieren, warfen die Totengräber die Leichen und die Sterbenden zusammen auf ihre Karren. Die Lebenden legten nachts vor Kälte Leichen über sich, um sich zu wärmen. Das Beste, was einer Mutter geschehen konnte, war, dass ein Beduine auftauchte, ihr das Kind abnahm und es damit aus diesem gewaltigen Massengrab rettete. Die Ruhr hatte die Luft verpestet. Hunde wühlten mit ihren Schnauzen in den aufgeplatzten Bauchhöhlen der Toten. Allein im Oktober 1915 zogen über vierzigtausend von Soldaten bewachte Frauen durch Ras-ul-Ain, kein einziger Mann, der noch einigermaßen bei Kräften gewesen wäre, befand sich unter ihnen. Der Kreuzweg der Märtyrerfrauen. Entlang der Bahnlinie war die Straße übersät mit den Leichen vergewaltigter und danach aufgeschlitzter Frauen.
Von 1.850.000 Armeniern, die im Osmanischen Reich gelebt hatten, sind etwa 1.400.000 deportiert worden, berichtete der Theologe Johannes Lepsius. Von den anderen 450.000 wurden etwa 200.000 von der Deportation verschont, vor allem die Bevölkerung von Konstantinopel, Smirna und Aleppo. Der Vormarsch der russischen Truppen rettete weiteren 250.000 Personen das Leben, die ins russische Armenien flohen. Ein Teil von ihnen starb dort an Typhus oder Hungers. Die anderen hatten ihr Leben gerettet, aber ihre Herkunftsorte für immer verloren. Von den beinahe 1,5 Millionen deportierten Armeniern gelangten lediglich zehn Prozent an den Endpunkt der Konvois, nach Deir-ez-Zor. Im August 1916 wurden sie nach Mosul auf den Weg gebracht, aber sie sollten in der Wüste umkommen, vom Sand verschluckt oder in Grotten gepfercht, wo man sie allesamt, Tote und Sterbende, in Brand steckte.
Sie schwiegen. Die Kreise schlossen sich enger um Armen Garo. Er schaute Șahan Natali an, Șavarș Misakian und danach alle anderen. Er nahm die Fotos und reichte sie den im ersten Kreis Sitzenden, für jede Mission das passende.
Und trotzdem, wiederholte er müde, bringt keine Frauen und Kinder um.
Den alten Armeniern meiner Kindheit kam der Ort, an dem sie lebten, als zufällig vor. Manch einer hielt auch die Zeit, in der er lebte, für zufällig, nur war die Zeit schwerer zu hintergehen. Eben deshalb schaffte sie es, aus den Albumblättern mit den Fotos herausschlüpfend, aus alten Kleidern oder von unter den Achselhöhlen, sie letztlich einen nach dem anderen selber in Zufälligkeiten zu verwandeln.
Da nun der Ort nichts als eine Konvention war, die man in weniger aggressiven Zeitumständen vernachlässigen konnte, lebten meine Alten mit der Faszination der weiten Räume. Sie sprachen stets so, als könnten sie sich gleichzeitig an mehreren Orten aufhalten. Offenbar half ihnen dies zu einer Zeit zu überleben, als dieses am schwierigsten zu bewerkstelligen war, aber es half ihnen auch zu sterben, wenn nichts mehr dagegen unternommen werden konnte.
Diesbezüglich aber hatten meine Großväter unterschiedliche Ansichten. Großvater Setrak, der Vater meiner Mutter, schien sich niemals zu langweilen. Sein größerer Bruder, Harutin, war vor seinen Augen
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