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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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Er sprach noch ein einziges Mal, die anderen aber glaubten anfangs, es sei ein Scherz, bis sie begriffen, dass Pater Komitas die Zügel seines Verstandes gerissen waren. Er blieb unterwegs stehen und sagte seinen Weggefährten: Beeilt euch nicht! Lasst die Soldaten uns überholen ... Dann, als Daniel Varujan abgeholt und umgebracht werden sollte, erhob er noch einmal die Stimme. Aber er sprach nicht eigentlich, sondern er sang. Zuerst die Psalmen
Vergib mir, Gott!
, jedoch mit rauher Stimme, als erwartete er, dass Gott sich bei uns entschuldigte, dann
Grunk – Der Kranich
. Und als er fertig war, brach er in Gelächter aus. Sein Lachen war die ganze Nacht über zu hören, röchelnd und nervös, wie ein verfaultes Gewebe, das man immerzu zerreißt, zusammenfaltet und wieder zerreißt, immerzu. Viele von ihnen wurden damals umgebracht, es begann mit Daniel Varujan und Siamanto. Den Archimandriten Komitas schickte Oguz Bey, nicht wissend, was er mit ihm tun sollte, nach Konstantinopel zurück. Er verstand sich darauf, Menschen umzubringen, die auf die Knie fielen oder zu fliehen versuchten, er brachte Leute um, die beteten, ihn anflehten, weinten oder ihn verdammten, aber er wusste nicht, wie er jemanden umbringen sollte, der lachte. Und Komitas lachte ununterbrochen, es war ein Lachen, wie man es noch niemals gehört hatte, die Tränen der Leidenden waren darin aufgehoben, und es verhöhnte den Mörder: Dieses Lachen zeigte, dass in Komitas nichts mehr verblieben war, das man hätte umbringen können.
    Er sollte sich niemals mehr erholen. Seine Freunde schickten ihn nach Paris ins Sanatorium. Er starb zwanzig Jahre später, Lachen und Weinen hatten sich in seinem Sterbegesicht versöhnt. Sein Antlitz ist entspannt, wie es auch das meines Großvaters war, als sei der Tod eine Rast, als stützte sich einer auf die Brüstung eines kühlen Brunnens und schaute hinein.
    Großvater Garabet sang den
Kranich
, das Lied, das von den heimatlichen Gefilden sprach, und er begann danach nicht zu lachen, er schwieg. Ich weiß, was er tat, denn die Spuren konnte man auf der Leinwand sehen, das laute Lachen meines Großvaters bestand aus Farben, er hatte sie, wie ich dachte, ohne Sinn und Verstand mit dem Pinsel auf die Leinwand gesetzt, mit den in die Farben getauchten Fingern auf die Leinwand geschmiert, wenn die Lachsalven sich nicht mehr beherrschen ließen, oder unmittelbar aus den Farbentuben draufgedrückt. Schwarz und Orange herrschten vor, die Großvater sehr bedächtig erforschte, das war seine Weise, sich selbst zu erkunden. In seinem Bemühen, die Welt zu begreifen, hatte Großvater für jedes einzelne Ding seine eigenen methodischen Kriterien. Sich selber entschlüsselte er beispielsweise durch Farben. Der Mensch hat seine je eigene energetische Aufladung. Energie bedeutet vor allem Licht. Licht aber ist eine Kombination von Farben, anhand des Farbenspektrums kann man verstehen, von wie weit es herkommt, welcher Körper es abstrahlt, in welcher Tageszeit wir uns befinden. Genau so verhält es sich auch mit den Menschen; man stellt eine Kristallpyramide vor ihn hin und schaut ihn an. Und das Spektrum ist da. Sieh an, das bin ich, sagte Großvater und betrachtete das von hingeklatschten Farben zerfurchte Blatt, auch strich er mit den Fingern darüber, um nicht bloß die Farben und die Geschmeidigkeit der Linienführung, sondern auch die Glätte oder Schroffheit der Tusche zu überprüfen.
    Dies waren übrigens einige der wenigen Augenblicke, in denen er sich als mitbetroffen gebärdete. Ansonsten betrachtete er die Dinge geduldig und in allen Einzelheiten. Selbst wenn er aß, kaute er, um das Wesen der Speise zu verstehen, jeden Bissen bis zu dreiunddreißig Mal, die für das Kauen, wie er sagte, maßgebliche Zahl. Nur so könne man einerseits den Geschmack und den Sinn jedes Nahrungsmittels verstehen und andererseits dieses derart zerkleinern, dass es dem Magen bekömmlich sei. Eigentlich war jener gleich weit von allem anderen entfernte Punkt ebenso weit entfernt von ihm selber. Sich selbst mit der gleichen Gelassenheit zu betrachten, wie man die Bäume im Garten erkundet oder die Chronologie eines Krieges, von einem Ort her, der außerhalb des Gegenstandes selbst lag, war ebenfalls eine Art Narretei. Nur dass Großvater, wie man sieht, sein Leidensmodell in Pater Komitas gefunden hatte, nicht, um diesen nachzuahmen, sondern um sich darin zu spiegeln. Während die Verrücktheit von Pater Komitas eine war, die von innen

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