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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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bedächtiger. Arșag stieg in den Glockenturm, wo er jedoch nicht an den Seilen zog, sondern mit der Glocke redete, die ihm mit unterschiedlich tiefem Schweigen antwortete, wie eine Orgel, deren Pfeifen nicht sangen, sondern atmeten. Dann schaute er durch die nach Süden hin sich öffnende Fensterluke, die so klein war, dass man wohl eine Flinte durchstecken konnte, aber sie lag hoch genug, um bis an den Stadtrand schauen zu können, ob die Amerikaner kämen. Im Südfenster konnte man keine Amerikaner kommen sehen, dafür sah man durch das Nordfenster auf der Straße von Tecuci her die Russen kommen. Und mehr als ein Dutzend Jahre später, das Südfenster hatte sich all diese Zeit still verhalten, konnte er ebenfalls durch das Nordfenster, diesmal in Begleitung anderer Mitglieder des Kirchenvorstands, die er alle der Reihe nach hinausschauen ließ, beobachten, wie die russischen Truppen auf der Straße nach Tecuci wieder abzogen. Aber mittlerweile war es zu spät, die roten Fahnen hatten Wurzeln geschlagen, und ihre Wappen mit Hammer und Sichel waren eins geworden mit dem Verputz der Häuser, sodass man sie nur noch durch den Abriss der Mauern von den Fassaden hätte entfernen können. Sehr richtig bemerkte Sahag Șeitanian, der länger als die anderen vor dem Fenster verweilte: Um uns befreien zu können, hätten nicht sie abziehen und wir bleiben müssen, sondern wir hätten gehen müssen und sie bleiben. Es war ein nebliger Morgen nach einer Regennacht, die russischen Soldaten verschwanden eilig, der Boden verdreckte ihr Schuhwerk, sodass sie keinen Staub aufwirbelten.
    Auch die Ärzte blieben Ärzte, aber wie es stets zu Kriegszeiten zugeht, nachdem sie die Verhungerten und die von Wunden Übersäten, die zähneklappernden und das vorgefallene Geschehen beweinenden Typhuskranken drunter und drüber beerdigt hatten, schafften sie es mit den Geburten nicht mehr so recht. Mit den Kindern, die in dieser verkehrten Welt, wo die Sonne im Osten unterging, als fertige Greise geboren wurden.
    Somit wahrte mein Großvater Garabet Vosganian zu allem Geschehen den gleichen Abstand. Er wollte die Welt verstehen und hielt alles, was geschah, für wiederholbar, deshalb ließ er seine Modelle an seiner statt leben. Sein Leidensmodell war der Mönch Komitas, dem er auf das Alter zu immer ähnlicher wurde, sodass ich, als ich zum ersten Mal die Totenmaske des Komitas sah, die von mechitaristischen Mönchen auf der venezianischen Insel San Lazzaro aufbewahrt wird, angesichts der ungewöhnlichen Ähnlichkeit erschrak. Für meinen Großvater war Pater Komitas wahrscheinlich nicht bloß das Leidensmodell, sondern auch das Modell seines Wahnsinns.
    Oftmals saß er reglos da und murmelte vor sich hin. Wir wussten nicht, was er sagte, Großmutter ließ uns nicht in seine Nähe. Diese Seiten sind im
Buch des Flüsterns
weiß geblieben. Dann schloss er sich in sein Zimmer ein und sang. Er hatte eine Baritonstimme, die hurtig aufsteigen konnte zu einem durchdringenden Tenor, genau wie Komitas’ Stimme, die Vincent d’Indy, Camille Saint-Säens und Claude Debussy verblüfft hatte. Er sang und begleitete sich auf der Geige, strich kräftig über mehrere Saiten gleichzeitig, sodass es sich wie ein Quartett anhörte.
    Auch Komitas war, ebenso wie seine Freunde Ruben Sevag, Siamanto und der Dichter Daniel Varujan, am 24. April 1915 verhaftet worden. Er behielt seine Archimandriten-Tunika an, nicht aber die Kapuze, die durch ihre Spitze den Berg Ararat symbolisierte, und die sämtliche Repräsentanten der Armenischen Kirche vom Katholikos bis hin zum Mönch tragen. Kapuze und Pelerine gab er an Bedürftige weiter, die in den Konvoi gingen. Sie hatten sie in Autos bis kurz vor Ceanguiri gefahren. Komitas hatte sich unter die Menge gemischt und versucht, so gut er konnte deren Leiden zu lindern, auch ermahnte er sie, ihren Glauben zu bewahren. Nachts blieb er allein und murmelte vor sich hin. Anfangs glaubten seine Weggefährten, er bete, aber er betete nicht, sondern sprach mit jemandem, und wenn dies Gott war, klangen die für einen Mönch ungewöhnlichen Worte tadelnd, nach der Art umgedrehter Psalmen. Und eines Tages sah er eine Frau, die drauf und dran war zu gebären, aber noch bevor er bei ihr sein konnte, hatte ein Soldat den dicken und zuckenden Bauch der Frau mit einem Säbel aufgeschlitzt. In diesem Augenblick verstummte Komitas ebenso, wie Andrei Rubljow fünfhundert Jahre zuvor angesichts der Grausamkeiten der Tataren verstummt war.

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