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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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Harutiunian, geboren im Jahre 1913, zum Zwecke der Bestätigung, dass er sich vom 8. Mai 1945 bis zum 24. September 1955 in der UdSSR aufgehalten hat. Harutiunian wurde zu verschiedenen Arbeiten herangezogen. In der letzten Zeit war er als Chefökonom im Bereich der Holzverarbeitung tätig. Er zeigte ein pflichtbewusstes Verhalten.
    Tatsächlich. Im Augenblick seiner Verhaftung wog er 82 Kilo. Beim Verlassen des Gefängnisses wog er gerade mal fünfzig. Mitunter, wenn die Langeweile sie mitfühlend stimmte, nannten die Aufpasser sie tonki-zwonki, das heißt dünn und tönend, das heißt, dass die Knochen in ihnen klappernd und rasselnd aneinanderschlugen. Fast alle Haare waren ihm ausgefallen, nur an den Schläfen waren noch so viele übrig geblieben, dass es aussah, als hingen ihm zwei silbrig glänzende Hufeisen über den Ohren. Seine linke Hand zitterte leicht, deshalb hielt er sie beim Rauchen unter dem Tisch, verborgen vor den Blicken der anderen. Auch waren ihm die Zähne ausgefallen. Ach, du anständiger Mensch vom Nordbahnhof, der du dem Unbekannten in Lagerkleidung die Brezeln geschenkt hast, deine Güte bedeutete mehr, als jener annehmen konnte. Aber Harutiunian hatte gelernt, sich nicht zu beeilen. Er wälzte die trockenen Bissen in den Backentaschen, bis sie weich geworden waren.
    Bei sich zuhause, sie wohnten nun in einer niedrigen und engen Mansarde, wurde er mit großer Freude empfangen. Seine Freunde erwarteten ihn, auch sie waren mittlerweile freigekommen: Siruni, Arșavir Acterian und Vahan Gemigian. Das Foto ist erhalten geblieben. Arșavir hatte auf die Rückseite »Vier Zuchthäusler« geschrieben. Mit anderen Worten: Das Zuchthaus kommt nicht und geht nicht vorbei, es ist wie Feuchtigkeit, die einem in den Knochen steckt, sodass man sie immer mit sich trägt, wenn sie einen einmal durchdrungen hat. Arșavir wollte damit sagen, dass es Gefängnisse gibt, denen man niemals entkommt, egal, wie viele Riegel aufgeschoben würden und Tore sich öffneten. Immer bleibt noch ein Tor übrig, das man nicht öffnen kann. Und dabei kann einem niemand helfen, keiner kann sich mit dir daran abarbeiten, denn nur du alleine kannst es sehen.
    Und die vier Zuchthäusler machten sich auf, den fünften zu besuchen, Hovhannes Babikian. Er erwartete sie auf den Beinen, auf einen Stock gestützt. Vahan, der wusste, wie krank er war, wollte ihm behilflich sein, sich hinzulegen. Das ist nichts, gab Babikian zurück, das Bett ist für den Schlaf da. Den Tod empfängt man stehend. Als sie die Treppe hinuntergingen, hörten sie ihn noch
Mein Kilikien
singen, die Sehnsucht nach den heimatlichen Gefilden. Er sang das Lied noch zu Ende, obwohl seine Nichte angesichts des Glanzes in seinen Augen meinte, er sei schon nach der ersten Strophe gestorben. Ja, selbst seine Lippen hätten sich, obwohl man das Lied noch hören konnte, nicht mehr bewegt. Sie stiegen wieder hinauf, schoben das Bett zum Toten hin, der immer noch aufrecht stand, lehnten ihn schräg an die Wand zum Flur und legten ihn dann ins Bett. Damit die paar Leute, die immerhin noch zur Totenwache kommen sollten, nicht erschraken, wenn sie ihn so dastehen gesehen hätten. Wie einen Brunnenschacht, tief und rund, mussten sie ihm das Grab schaufeln.
    Levon Harutiunian hat uns all dies in leserlicher Schrift und mit ganz wenigen Streichungen mitgebracht. Wir versicherten ihm, wir wollten uns beeilen, das Manuskript zu drucken. Nach meinem Tod, sagte er. Wir erzählten ihm von der Freude jedes Autors, sein frisch gedrucktes Buch in Händen zu halten und durchzublättern. Ich wäre sogar versucht, es zu lesen, nicht wahr?, lachte Harutiunian. Dann aber ernsthaft: Schreiben befreit. Ich habe es aufgeschrieben, nun kann ich es vergessen. Das Lesen aber belastet einen. Mögen es andere lesen, damit sie nicht vergessen. Ich habe sie alle lange genug im Gedächtnis behalten.
    Ich glaube, was er da gesagt hatte, war nicht die ganze Wahrheit. Er konnte ohnehin nicht vergessen. Insbesondere deshalb nicht, weil er der letzte Überlebende war, er musste auch die Erinnerungen all der anderen bewahren. Die Erinnerungen sterben später als die Menschen. Wie Großvater Garabet gesagt hatte: Kein Mensch stirbt auf einmal, sondern immer ein bisschen, stückweise. Zuerst der Leib, dann der Name, dann die Erinnerungen der anderen an ihn, und ganz zuletzt seine Erinnerungen an andere.
    Ich spielte unter dem Tisch im Hof, wenn die Alten sich flüsternd Geschichten erzählten oder schöne

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