Buch des Flüsterns
die Präfekturwand heran und versuchte, durch die Fenster zu schauen. Ein Wachposten, der plötzlich hinter einer Ecke hervorkam, warnte ihn auf Russisch, packte ihn am Mantel und versuchte, ihn hineinzudrängen. Großvater riss sich los, der Soldat ließ ihn gehen und zeigte mit dem Gewehr, dass er die Straße hinab verschwinden solle.
Niemand kann sagen, er wisse genau, was Stille ist, wenn er in seinem Rücken nicht das Klicken der Waffe gehört hat, die durchgeladen wurde. Großvater begann, sich mit zögerlichen Schritten zu entfernen, dabei schaute er sich immer wieder um. Dann entsicherte der Russe seine Maschinenpistole. Und es wurde still. Nun rannte Großvater Garabet los, hielt sich immer nahe an den Wänden, bei jedem Geräusch sofort bereit, sich auf den Bürgersteig zu werfen und eins zu werden mit der Spur seiner Schritte.
Das Weitere erzählt Levon Harutiunian. Bei Tagesanbruch, die Jüngsten von ihnen mussten die Alten und Erschöpften stützen, wurden sie wieder auf einen Laster verladen. Sie hatten Durst. Der Lkw hielt an der Landstraße, an der Stelle, wo der Milcov beinahe die Straße berührt. Sie knieten am Ufer nieder und tranken aus dem Fluss, mit dem gleichen Wasser wuschen sie sich auch das Gesicht. Von der Grenze aus folgte ihr Weg dem der früheren Gruppe, die vier Monate vor ihnen verhaftet worden war. Die Lubjanka, die Sortierung, danach das Lefortowo-Gefängnis mit seinen dicken Mauern aus der Zeit der Kaiserin Katharina. Wo nicht einmal die einfachste Form der Freiheit, sich für den Tod zu entscheiden, erlaubt war. Die Gefangenen schliefen bei Licht und mussten die Arme über der Decke liegen lassen, damit nicht etwa einer, der sich einen scharfen Gegenstand beschafft haben mochte oder schlicht und einfach seine Zähne zu Hilfe nahm, sich die Venen öffnete und sich, solchermaßen verborgen und die Gefängniswärter täuschend, in den Tod beförderte. Und über dem ersten Stock war ein Drahtnetz gespannt, das sie daran hindern sollte, sich hinunterzustürzen, um auf dem Betonfußboden im Parterre zu zerschellen. Lebend waren die Gefangenen nützlicher, denn jeder von ihnen hätte durch seine Aussagen noch weitere nach sich ziehen können. Dort begann auch die Isolation. Man sperrte sie in separate Zellen, hatte sie ausgezogen, durchsucht, ihnen sogar den Anus geöffnet, nachdem man sie gezwungen hatte, etwa zwanzig Kniebeugen zu machen, und ihnen danach Häftlingshosen und -hemden gegeben. Meine Zigaretten sind bei Sarkis Saruni geblieben, antwortete Harutiunian dem ersten Vernehmer, der ihn gefragt hatte, ob er rauche. Hier gibt es niemanden mit diesem Namen, war die schneidende Antwort. Wir sind doch eben erst getrennt worden, beharrte der damals noch junge Harutiunian. Ich habe dir doch gesagt, dass es diese Person nicht gibt!, schlug der Vernehmer mit der Faust auf den Tisch. An einem der folgenden Tage sollte er feststellen, dass es auch die Person Levon Harutiunian nicht mehr gab. Nun hieß er 7-35. Wie heißt du?, wurde er gefragt, als er im Lager Kriwoschtschokowo in einem Vorort von Nowosibirsk am Ufer des Ob mit steifen Beinen soeben aus dem Zug gestiegen war. 7-35!, schrie Harutiunian, um das Geheul der Kettenhunde, die von den Soldaten aufgehetzt worden waren, zu übertönen. Und wie noch?, fragte der Offizier, der unter dem Torbogen des Lagers mit der Inschrift »Durch Arbeit zur Freiheit« stand. Das ist dein Vorname, und wie lautet dein Familienname? 58, rief Harutiunian jetzt, was nichts anderes als Volksfeind hieß. Nun war er Teil einer anderen, vielzähligen, durcheinandergewürfelten, entkräfteten und über ganz Sibirien verstreuten Familie der gefährlichen sozialen Elemente und Volksfeinde, wie sie ein Paragraf des Strafgesetzbuches bezeichnete.
Harutiunian kam nach elf Jahren Gefängnis wieder frei. Die Volksrepublik Rumänien empfing ihn auf mehrere Arten. Ein Mann, der ihn auf dem Bukarester Nordbahnhof in den üblichen Lagerschuhen und -kleidern erblickte, kaufte Brezeln und drückte sie ihm in die Hand. Ein anderer kam auf ihn zu und fragte ihn nach einem verschwundenen Verwandten. Und beim Verlassen des Bahnhofs empfing ihn eine Militärpatrouille, deren Laster ihn in den Innenhof der Securitate auf der Calea Rahovei brachte. Dort wurde ihm auch die Bescheinigung seitens der Botschaft der Sowjetunion ausgehändigt, etwas wie ein Diplom, das man Bestarbeitern überreichte.
BESCHEINIGUNG
. Ausgestellt zugunsten des Bürgers Levon Harutiunovici
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