Buch des Flüsterns
weitem gesehen, wirkten sie, eng aneinandergedrängt und die Köpfe geneigt, wie Pilger. Nur dass Pilger von ihrem Glauben geleitet und nicht von Soldaten angetrieben werden, die Nüstern der Pferde im Nacken haben oder bei Ausbruchsversuchen mit Peitschenhieben zurück in den Konvoi gescheucht werden. Sahag Șeitanians Familie bestand aus fünf Personen, der Großmutter, den Eltern, ihm selbst und seiner kleineren Schwester. Die anderen beiden Kinder, schon etwas größer, waren heimlich nach Konstantinopel geschickt worden. Seine Mutter Hermine war eine zähe Frau. Sie hielt sich noch gut auf den Beinen, umfasste ihre Kinder mit den Armen und ging stets den geraden Weg in der Mitte des Konvois, um sie vor den Hufen der Pferde zu beschützen. Auch um ihnen den Anblick der Leichen am Wegrand zu ersparen, die von Krähen zerrupft wurden. Sie hatten ein bisschen Geld dabei, das Rupen, der Vater, unter seinem Hemd verborgen hielt. Mit einem Teil des Geldes hatten sie eine Art Fahrkarte erwerben können, vielmehr sich die Gunst des Bahnvorstehers von Izmid erkauft, sind in den Zug gestiegen und haben die Strecke Eșchișer–Konya–Bizanti–Adana bis zur Hälfte des Wegs nach Mamura zurückgelegt, wo der Zug auf Befehl der Armee, die die Gleise blockiert hatte, anhalten musste. Aber dass hier der Zug angehalten wurde, wenngleich die Pfade über felsiges Gebiet oder durch die hitzestarrende Ebene beschwerlich waren, hatte ihnen das Leben gerettet, denn die Viehwaggons, in die man sie gesteckt hatte, waren viel zu eng, die Lebensmittel erschöpft, und Wasser hatte ihnen niemand gegeben. Die in den Waggons zurückgebliebenen Toten waren solche, die eben ihre Seele ausgehaucht hatten, denn alle unterwegs Gestorbenen waren während der Fahrt aus den Waggons geworfen worden.
Also hatten sie zweimal Glück gehabt. Das erste Mal, weil sie nicht Hunderte Kilometer zu Fuß zurücklegen hatten müssen, und zum Zweiten, weil man sie just in dem Augenblick aus den Waggons geholt hat, als sie alle zu sterben drohten. Aber die meisten von ihnen, vor allem die Konvois aus den westlichen Wilajeten, hatten diese Möglichkeit nicht. Sie haben den ganzen Weg zu Fuß zurückgelegt; einige von ihnen, die Wohlhabenderen, hatten sich Wagen und Maulesel besorgen können. Aufgrund von Erschöpfung, Kälte, Hunger, der Ausplünderungen und Gemetzel starben von eineinhalb Millionen Deportierten etwa eine halbe Million, bevor sie den Rand des ersten Kreises erreicht hatten. Denen noch diejenigen hinzuzuzählen sind, die dort ankamen, aber nicht auf den eigenen Beinen, sondern angeschwemmt von den Wassern des Tigris und des Euphrat.
Im September begannen die Nächte empfindlich kalt zu werden, doch die Hitze tagsüber ließ nicht nach. Man trieb sie auf ein weitläufiges Gelände in der Nähe der Bahnstation von Mamura. So weit das Auge reichte, hatten sich die Leute mit allem, was zur Hand war, Decken, Kleidungsstücken oder Leintüchern, eine Art Zelt gebaut. Die meisten dieser Zelte stützten sich nur auf vier Stöcke und spannten über drei bis vier Quadratmeter ein ausgebleichtes Stück Tuch, das vor Sonne und Regen einigermaßen Schutz gewährte, aber gegen die Kälte nichts ausrichten konnte. Sahag überschlug mit berechnendem Blick so viele Zelte, dass ein Rand des Geländes nirgendwo abzusehen war. Man hatte diesen Ort absichtlich am Stadtrand und jenseits der Bahnlinie angelegt, denn der Bahndamm mit den Gleisen ließ sich besser bewachen, und so konnte es niemand wagen, auf der Suche nach Brot in die Stadt zu gehen. Sie hatten noch ein bisschen was zu essen, aßen eilig und mit Bedacht im Schatten ihres Zeltes, damit es ringsum niemand sehen konnte.
Ab und zu versuchten kleinere Gruppen, sich der Bahnlinie zu nähern, aber sie wurden stets zurück ins Lager gescheucht. Letztlich aber bedrohten die Soldaten sie nicht mehr und ließen sie ihre Arbeit verrichten. Denn nun handelte es sich um die, welche von Zelt zu Zelt gingen und den Leuten darin halfen, ihre Toten wegzutragen. Und damit die Toten nicht völlig alleine blieben, wurden sie nebeneinander hingelegt, als ihre Zahl jedoch stetig zunahm, wurden sie übereinandergelegt, sodass der Tod Hügel entstehen ließ, die wie Wachtürme das Lager umringten. Die Tiere keuchten vor Hunger und aufgrund des Leichengestanks, es waren vor allem Maultiere, an Wagen gespannt oder den Hausrat in Quersäcken auf großen Lastsätteln tragend; sie hatten sich als widerstandsfähiger erwiesen, die
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