Buch des Flüsterns
Pferde waren verdurstet oder hatten sich auf den steilen Gebirgspfaden die Schienbeine gebrochen. Die Hunde hielten sich beiseite, sie erkannten in den Augen der Menschen den gleichen Hunger und die gleiche Hatz, warteten mit den Krähenschwärmen geduldig auf den Einbruch der Dunkelheit.
Um sich gegenseitig zu wärmen, schliefen sie eng aneinandergekauert. Tagsüber zogen sie sich aus und spannten die aneinandergebundenen Kleider über sich aus. Sie hatten sich mit einem jungen, frisch verheirateten Paar aus Konya darüber verständigt, sich den Wagen zu teilen, den die Männer reihum mit schoben, um das Maultier zu schonen. Eine Frau hatte sich angeboten, ihre Bettwäsche zusammenzunähen, damit sie dem Wind besser widerstand. Sie war mit ihrem Verlobten unterwegs, hatte heiraten wollen, aber die Brautleute waren unterwegs gestorben.
Sahags Mutter hatte zwei Töpfe, in denen sie das Regenwasser auffing. Wenn das Wasser zu Ende war, wischten sie sich mit den Tüchern über die Lippen, die sie über Nacht aufgehängt hatten, damit sie die Tauflüssigkeit auffingen.
Wenn sich die Zelte zu sehr vermehrt hatten und drohten, über die Bahnlinie hinüberzuschwappen, und wenn die Zahl der Leichen derart zugenommen hatte, dass der Todesgestank die Luft zu verpesten drohte, stürmten die berittenen Soldaten durch die Zeltreihen und trieben ein paar Tausend Leute von neuem auf den Weg. Die Zelte brachen unter den Pferdehufen zusammen, und die Menschen wurden mit Peitschenschlägen an den Rand des Geländes gescheucht. Wenn sie ihre Habseligkeiten nicht schnell genug zusammenpacken und ihr Zelt abbrechen konnten, trieben die Reiter sie zur Eile, indem sie die trockenen Tücher ihrer Zeltdächer in Brand setzten.
Sie waren gegen Ende Oktober dran. Bis zur nächsten Rast hatten sie eine Strecke zurückzulegen, die ein kräftiger Mann in fünf Stunden geschafft hätte, sie aber benötigten dafür zwei Tage.
ISLAHIYE. DER ZWEITE KREIS . Der Weg führte durch das Amanus-Gebirge, über den Kamm, dann ging es einen Fluss entlang abwärts auf Islahiye zu. Mit dem Eintritt in den zweiten Kreis kam auch der erste Schnee. Viele steckten in dünnen Lumpen, und allein der vom Schweiß ins Gewebe eingebackene Staub ließ ihre Kleider etwas dicker wirken und wärmer. Die Decke ließen sie auf dem Maultier liegen und hüllten sich den ganzen Weg über in Leintücher. Den Wagen gaben sie auf, er war zu sperrig für die schmalen Pfade, und die Männer schulterten so viel, wie sie eben noch tragen konnten. Als es ein bisschen wärmer wurde, zerrissen sie ein Leintuch in Streifen und banden sich aneinander, damit keiner in eine Schlucht falle. Es war ein sauberer Gebirgsweg, und so blieb er auch nach dem Durchzug des Konvois, denn wer geschwächt zu Boden ging, wurde mit Stockschlägen in eine Schlucht gestürzt. Die Großmutter wurde auf dem Maultier mitgeführt, was ihr im Unterschied zu vielen anderen half, den Weg zu überstehen. Diese endeten erschöpft oder stürzten, weil sie sterbend gegen Felsbrocken gelaufen waren. Als sie auf ein flaches Plateau gelangten, wurde der Konvoi von ein paar Dutzend bewaffneten Kurden empfangen. Wie auf ein Zeichen hin blieben die Soldaten zurück und ließen den unbewachten Konvoi weiterziehen. Sie hielten erst verschreckt an, als sie die Reiter sahen, die Flinten und Säbel schwenkend auf sie zugeritten kamen. Dieses Plateau war schmal, hinter ihnen erhoben sich die Berge, auf beiden Seiten gähnten abschüssige Täler und vor ihnen die Reiter. Diese Szene kennen wir aus Hunderten Schilderungen. Verlassene, schutzlose Konvois, mehrheitlich Frauen und Kinder, die sich hilfesuchend über das Gelände verstreuen, ohne zu wissen, dass man erst dann zur sicheren Beute der auf Raub und Mord sinnenden Reiter wird, wenn man sich aus der Masse herausgelöst hat. Einmal waren die Täter extra aus den türkischen Gefängnissen freigelassene und bewaffnete Kriminelle, dann Kurden, Tschetschenen oder Beduinen. Selten nur fielen sie zufällig über die Leute her, meistens waren sie vorher unterrichtet worden, kannten den Zeitraum und die Strecke der Konvois, und die Soldaten hatten die Anweisung, sich zu entfernen und sie ihr Geschäft verrichten zu lassen. Zuweilen sollten sie lediglich ausgeplündert und die jungen Frauen verschleppt werden, häufiger aber wurden sie bis zum letzten Mann niedergemetzelt. Es gab keine Regel, man konnte umgebracht werden, weil man Geld oder Schmuck bei sich hatte, und man konnte
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