Buch des Flüsterns
umgebracht werden, weil man nichts hatte, was man ihnen hätte geben können. Am ratsamsten war es, sich auf den Boden zu kauern oder flach hinzulegen und sich tot zu stellen. Wenn man das Glück hatte, nicht von den Hufen ihrer Pferde zertreten zu werden, konnte man so lange ausharren, bis die Reiter von ihrer Jagd auf die lebenden Ziele ermüdet waren oder der Abend hereinbrach und sie sich johlend davonmachten, die zappelnd sich wehrenden Frauen auf dem Sattel um die Mitte gefasst. Zurück blieb ein von Leichen übersätes Gelände, auf dem sich langsam die wenigen verschreckten Überlebenden wieder erhoben.
Der Verlobte der Frau, mit der sie sich angefreundet hatten, war auch umgebracht worden. Er hatte eine wertlose, aber glänzende Kette am Hals getragen, und der Reiter, der diese in seinen Besitz bringen wollte, machte sich keine Mühe, sondern hieb ihm einfach den Kopf ab. Sie mussten ihn dort liegen lassen, den Tieren zum Fraß.
Die Verwundeten hinter sich herziehend, erreichten sie erst gegen Morgen die Ebene bei Islahiye. Auf beiden Seiten des Lagereingangs erhob sich je ein Leichenhaufen, vor allem mit Kinderleichen. Sie spannten ihre Zelttücher auf. Ihr Essen war beinahe aufgebraucht. Morgens durchpflügten berittene Soldaten die Zeltreihen und warfen aufs Geratewohl Brot über die Zelte. Die Leute stürzten sich darauf, versuchten, je ein Stück zu packen, und kämpften darum. Gegen Mittag beruhigte sich das Lager, die Menschen schleppten sich unter die Zeltplanen und wachten bei den Sterbenden.
Die Soldaten hielten sich abseits, denn die schwülen Todesgerüche waren nicht angenehm, ja, sie kündeten die Verbreitung der Ruhr an. Der Lagerkommandant rief die Männer zusammen, die noch bei Kräften waren, und befahl ihnen, die Toten zusammenzutragen. Weil in jenen Herbstmonaten Hunger und Typhus im Lager von Islahiye über sechzigtausend Opfer gefordert hatten, ordnete der Kommandant an, die Toten einige Tage lang am Rande des Lagers liegen zu lassen, bevor sie begraben wurden. Denn draußen im Wind trockneten die Leichen aus und schrumpften, sodass sie weniger Platz einnahmen und die Massengräber mehr fassen konnten.
Dann rückten sie ihre Zelte näher aneinander, sodass die Plünderer, vor allem Beduinen aus den umliegenden Dörfern, nicht mehr zwischen den Zelten hindurchschlüpfen konnten. Denn sie fürchteten sich nicht voreinander, Geld oder Gold stahl aus den Reihen der Deportierten niemand, man hätte damit auch nichts anfangen können. Und was man hätte begehren können, Mehl, Zucker oder Trockenfleisch, hatte längst keiner mehr. Die Tiere suchten an den Mauerrändern oder zwischen den Trassenführungen nach Grasbüscheln. Die innerlich vom Typhus zerfressen wurden, kauerten gekrümmt auf dem Boden und warteten auf den Tod. Die anderen kauten gemächlich die Stückchen krümeligen Brotes, die ihnen von den durchgaloppierenden Pferden herab zugeworfen worden waren.
Nun geschah etwas gleichermaßen Rätselhaftes und Grausames: Es schneite, und sie stürzten mit offenen Handflächen aus ihren Zelten hinaus. Es steckte noch so viel Leben in ihnen, dass die Flocken in ihren Handhöhlen schmolzen und sie die Tropfen von den Fingern lecken konnten. Dann, als sie sahen, dass der Schneefall heftiger wurde, warteten sie ab, ließen den Schnee auf dem Boden liegen, um ihn danach, ebenso wie die Hunde und Maultiere, vom Boden aufzulecken. Sahag begnügte sich noch länger als die anderen, denn er hatte gemerkt, dass der Schnee liegen blieb und wuchs, vor allem auf den Gesichtern der Toten, die noch kälter waren als der Boden.
Aber mit dem Schnee war auch ein grimmiger Frost gekommen, der den Boden gefrieren ließ, die Leintücher, aus denen die Zelte bestanden, in scharfe, schneidende Falten verwandelte, die Luft klärte, dem Gewusel aller Geschöpfe Einhalt gebot und auch die Miasmen wie Rauhreif zu Boden sinken ließ. Die Menschen kauerten sich aneinander, aus mehreren Zelten kamen die Leute und drängten sich in einem größeren zusammen, und dort, wo es jemandem gelungen war, ein paar vereiste Stöckchen aufzutauen und damit ein Feuerchen zu entfachen, gab es ein richtiges Gedränge, auch wenn es ihnen nur von weitem gelang, die ersterbende Flamme zu betrachten.
Die auf den Tod Dahinsiechenden waren vor Hunger so dürr geworden und vom Frost verzehrt, dass ihre Arme oder Beine krachend wie trockene Äste brachen, wenn man sie an den Armen oder Beinen zwischen den Zelten wegzerrte.
Als der
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