Buch des Flüsterns
Schnee schmolz, wurden wieder Konvois gebildet. Der Himmel weichte auf, und der Regen begann. Die Wege verschlammten. Sie wickelten sich von den Leintüchern abgetrennte Streifen um die Füße, sonst wären ihre nackten Fußsohlen im Boden kleben geblieben, und die Leute hätten keine Kraft mehr gehabt, sie aus dem Schlamm zu ziehen. Im Nieselregen, der sämtliche Konturen verwischte, dauerte der neuerliche Weg fast eine Woche. Man konnte die Toten nicht mehr zählen, denn auf dieser nebligen Wegstrecke, wo man nur noch die bläulichen Dämpfe des eigenen Atems sehen konnte, war das vom Regen durchweichte Fleisch derer, die umkippten, ebenso weich und klebrig geworden wie der lehmige Boden. Die Nachfolgenden traten sie mit Füßen und vermengten ihr Fleisch wie in einem schwarzen Teig mit dem alles verhüllenden Schlamm der Wege. Der Regen aber hörte auch nicht auf, als sie angekommen waren.
BAB. DER DRITTE KREIS . Das Gelände mit den schwarzen Zelten erstreckte sich auf einem Streifen etliche Kilometer außerhalb des Ortes, damit der Zugang der Deportierten zur Stadt verhindert werden konnte. Auf dem lösshaltigen Boden hatte das mit Schnee durchmischte Wasser Tümpel gebildet und das gesamte Gelände in Morast verwandelt.
Sie kamen nicht dazu, ihre unterwegs umgekommenen Gefährten zu zählen, denn selbst mit den nunmehr innerhalb ihres Lagers Gestorbenen kamen sie nicht mehr zurecht. Die Männer, die noch übrig geblieben waren, hatten sich in zwei Gruppen aufgeteilt. Die eine Gruppe trug die Leichen aus dem Lager und kümmerte sich um das Ausheben der Massengräber. Im dritten Kreis kostete es mehr Mühe, die Toten wegzutragen; ausgetrocknet wie der staubige Boden und mit vor Kälte leicht gewordenen Knochen, quollen sie vom Wasser auf, und ihre aufgeweichten Adern platzten, sodass sie rote Flecken bekamen, wie rohes Fleisch. Aufgedunsen und deshalb kaum zu beugen, brauchten sie mehr Platz, und in dem klebrigen Boden mussten die Gräber größer angelegt werden.
Die zweite Gruppe Männer durchkämmte auf der Suche nach etwas Essbarem die Gegend, näherte sich der Stadt jedoch nur bis zu den Müllgruben und den ausfransenden Armenvierteln. Zumeist bestand ihre Beute aus toten Tieren. Einige von ihnen, die noch etwas flinker waren, warfen mit Steinen nach den Krähen oder jagten Hunde, die um das Lager strichen und nach Einbruch der Nacht auf der Suche nach unverfaultem Fleisch die eilig zugescharrten Gräber aufwühlten.
So brach die Typhusepidemie aus. Sie traf zuerst die Kinder. Überzog ihre Wangen mit roten Flecken, die sich aufgrund der Entbehrungen sehr schnell in offene Wunden verwandelten, in denen sich Blut und Fieberschweiß vermengten. Dann griff sie über auf die Mütter, die es nicht über sich gebracht hatten, ihre fiebrig zitternden Kinder nicht in den Arm zu nehmen. Allein der Frost hinderte die Seuche daran, sich auf alle auszuweiten. Aber dem gleichen Frost war es zuzuschreiben, dass es für die Erkrankten keine Rettung gab. Aus Furcht vor der Krankheit blieben die Soldaten auf Distanz, und nur noch selten wagten sie sich zwischen die Zelte, um in aller Eile etwas Brot in den Schneeregen zu werfen. Keiner dachte mehr daran, den Morast davon abzuwischen, und wer das Glück hatte, ein Stück zu erhaschen, rannte schnell davon, es mit denen in seinem Zelt zu teilen, oder er kauerte sich nieder, das Kinn auf der Brust, den Brotkanten umklammert, und verschlang ihn unzerkaut, damit sich keiner mehr auf ihn stürzen und ihm etwas wegnehmen konnte.
Schier wahnsinnig geworden vor Mitleid mit den sterbenden Kindern, wagten sich vor allem Frauen ab und zu bis an den Rand der Niederlassung und baten um etwas zu essen, suchten nach einem besseren Dach oder sauberen Tüchern. Sie wurden mit Steinwürfen und Stockschlägen vertrieben oder schlicht und einfach erschossen.
Die Frau, mit der sie aufgebrochen waren, erkrankte. Sie saß zusammengesunken da, und sie konnten nichts anderes tun, als ihr alle Tücher, die sie noch hatten, über die Schultern zu legen. Eines Tages kehrte der Mann der Șeitanians mit einer toten Krähe zurück, er hatte sie erlegt, als der Vogel in einem Schwarm über dem Leichenhaufen kreiste. Er hatte ein verwildertes Funkeln in den Augen, seine eingefallenen Wangen waren mit gekräuselten Haarbüscheln bedeckt, die Kleider bestanden nur noch aus Lumpen. Damit diese nicht immerzu im Wind flatterten, hatte er sie mit einem Bindfaden, den er sich mehrfach von der Brust bis zur
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