Buch des Flüsterns
Hüfte um den Leib geschlungen hatte, festgebunden. Statt Schuhen trug er zwei verknotete Fetzenstreifen, und als Sohle hatte er sich je ein Stück Holz an den Fuß geschnürt. Dies machte seinen Gang unregelmäßig und schlürfend, nur ab und zu, wenn er Schwellen zu überschreiten hatte, hob er die Fußsohlen an. Um jagen zu können, musste er nicht laufen, auch hätte ihm dazu die Kraft gefehlt. Er musste die erlegten Viecher bloß tragen, und für die Hunde und Krähen, fett geworden von der Nahrung, mit der sie das Lager überreich versorgte, reichte ein gezielter Steinwurf. Und mit dem gleichen Stein musste man ihnen danach den Kopf zerschmettern. Oder ihnen ganz schnell den Hals umdrehen. Was Rupen Șeitanian getan hatte, der Kopf des Vogels war in eine unnatürliche Position gedreht. Als Hermine ihn sah, drückte sie ihre Kinder an die Brust und flüsterte aufgewühlt:
Ur es, Asdvadz?
Wo bist du, Gott? Gott liegt auf den Tod danieder, Weib, sagte der Mann. Sieh, seine Engel sind schon tot. Und er warf den schwarzen Vogel mitten ins Zelt.
Es bereitete einige Mühe, mit den feuchten Zweigen ein Feuerchen zu entfachen, über dem sie das Fleisch des gerupften Vogels brieten. Dies aber konnte der kranken Frau nicht mehr helfen, deren eingeschrumpfter Magen keine Nahrung mehr aufnahm. Sie erbrach das einzige Stückchen Fleisch, das sie hatte schlucken können, und erstickte kurz darauf an nicht nachlassenden Spasmen. Das ist das Zeichen des schwarzen Engels, murmelte Hermine. Es ist ein anderes und noch viel schrecklicheres Zeichen, sagte Rupen, wenn Gott selbst die schwarzen Engel umbringt. Und er schaute auf den bleiernen Himmel, auf den morastigen Boden, in den Nieselregen und die Dünste des Lagers, die Himmel und Erde in einem gefräßigen und mörderischen Nebel vereinten. Sie hoben die Frau auf das Maultier, wo sie wie ein Quersack zu beiden Seiten hinabhing, und Rupen brachte sie an den Rand des Lagers, wo die Leiber aufquollen und sich gelatinös auflösten. Aber davor hatten sie ihr die Kleider ausgezogen und sie unter der frierenden kleineren Schwester von Sahag und der jungen Frau aus Konya aufgeteilt, damit die Beduinen sie nicht so spärlich bekleidet zu sehen bekämen und sie begehrten.
Sosehr sich die Ortsansässigen auch vor den Deportierten schützten, indem sie sie wie Hunde mit Steinwürfen und allem, was ihnen sonst noch zur Hand war, vertrieben, indem sie Ermeni! Ermeni! riefen, damit auch andere aus ihren Häusern kämen und sich an der Abwehr der zögernd und friedfertig die Arme vom Körper wegstreckend sich nähernden Geschöpfe beteiligten, sosehr sie sich also wehren mochten, der Typhus griff auch über auf die Stadt. Nun versammelten die Araber ihre Krieger und fielen über das Lager her, zertrampelten es mit den Hufen ihrer Pferde, töteten mit Säbeln und Gewehrkugeln, vertrieben die Leute mit der flachen Säbelklinge oder mit Knüppelschlägen und setzten die Zelte in Brand. Die Soldaten schauten wie immer unbeteiligt und gleichgültig zu, nahmen die ihnen zuteilgewordene Hilfe gegen Hunger, Ruhr und Typhus wohlwollend an. Das Massaker dauerte einen ganzen Tag, und die Krieger hatten angekündigt wiederzukommen, wenn sich die Deportierten nicht schon am nächsten Tag wieder auf den Weg machten, wohin sie auch wollten, aber so weit weg wie irgend möglich von ihren eigenen Häusern.
Obwohl die Anweisungen lauteten, das Lager müsse bis zum Frühjahr geschlossen aufrechterhalten werden, machten sich die Konvois wegen der Unruhe der Einheimischen wieder auf den Weg. Es war der 5. Januar, eigentlich wussten sie dies nicht so genau, denn keiner hatte mehr die Tage gezählt, und weil es keine Zeichen mehr gab, die den einen vom anderen Tag unterschieden hätten, beispielsweise einen sonntäglichen Gottesdienst, merkte man bloß den Wechsel der Jahreszeiten – und auch diesen nur ungefähr. Einigermaßen verlässlich war allein die Zählung der Toten, die von den türkischen Soldaten vorgenommen wurde. Mit dem Bajonett ritzten sie jeweils den Holzpfosten an jedem Lagerort für die Toten. Aber als der Typhus wütete und die Leichen mit dem Wagen herbeigekarrt und gleich in die Gruben geworfen wurden, musste auch diese Zählung aufgegeben werden.
Die Adventszeit versuchten sie nach der Länge der Nächte zu bestimmen, aber weil der Himmel immerzu bewölkt und bleigrau war, schienen die Nächte länger zu sein, als sie es tatsächlich waren. Und die Zahl der Toten nahm stetig zu, denn die
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