Buch des Flüsterns
Sterbenden hauchten vor allem nachts ihre Seele aus. Aber weil am nächsten Tag die ersten Konvois wieder aufbrachen und keiner wissen konnte, wie viele von ihnen das Ende der Strecke erreichen würden, beschlossen die paar Priester, die sich von den anderen allein aufgrund ihrer etwas längeren Bärte unterschieden, dass jene Nacht der Vorabend des Heiligen Abends sei.
Wer noch einen Kerzenstummel besaß, zündete ihn an. Hermine sagte: Lasst das Licht erstrahlen. Sie brannten die ganze Kerze nieder, leckten mit den Fingern das warme Wachs auf und strichen es sich über die Hände. Sie hätten sich noch einen Stummel für die Auferstehungsnacht aufbewahren sollen. Bis dahin, sagte Rupen und wickelte seine Füße ein, werden wir alle tot sein.
MESKENE. DER VIERTE KREIS . Damit sie Aleppo nicht zu nahe kämen, wo es wieder die Gefahr einer Verseuchung gegeben hätte, und angesichts der zunehmenden Feindschaft der Ortsansässigen sowie aufgrund der Eilverfügung von Djemal Pascha, die Deportierten fernzuhalten von der Eisenbahnlinie, umging der Konvoi den etwas begehbareren Weg durch Aleppo und Sebil und durchquerte wildere Gegenden bei Tefridje und Lale. Ein kräftiger Mann hätte die Strecke zwischen Bab und Meskene in zwei Tagen bewältigen können, allerdings nur, wenn man annimmt, er habe sich eines geruhsamen Nachtschlafs in einer der Karawansereien erfreuen, er habe sich satt essen können, und seine Maultiere hätten Wasserbeutel mitgeschleppt. Die aus Bab aufgebrochenen Konvois legten diese Wegstrecke bestenfalls in zehn Tagen zurück, mitunter kamen sie jedoch erst nach zwei Wochen an.
Beim Auszug aus Bab begann es wieder zu schneien. Da sie nicht die große Straße nach Aleppo genommen hatten, und die weite Landschaft von Schnee bedeckt war, verfehlten die Konvois häufig die Richtung, und die Soldaten ließen sie nach einigen Überlegungen und Erkundungen umkehren und einen anderen Weg einschlagen. Dabei stießen sie sie mit den Pferdeschnauzen von der Seite an. Kein Wunder, dass sie immer wieder in die Irre gingen, denn die im Konvoi Mitlaufenden, selbst die Widerstandsfähigsten in den ersten Reihen, die Brust im Wind, hatten beim Gehen den Blick gesenkt und erhoben ihn nur selten, dann jedoch nicht, um den Weg zu erkunden – sie hielten ihn ohnehin für endlos –, sondern schauten zum Himmel hoch, suchten nach einem Lichtschimmer, einem Zeichen dafür, dass der Schneefall aufhöre, oder schlicht und einfach irgendein Zeichen. Sie hüllten sich in sämtliche Gewebe und Bettwäschen, die sie noch hatten, und banden sich diese mit Bindfäden um den Leib gegen den Wind. Die dicksten Decken waren für die Füße und Beine bestimmt, sie fertigten sich damit eine Art Filzstiefel an, indem sie sie in Öl tränkten, sofern sie noch welches hatten, oder in Rohöllachen, damit sie das Schneewasser abwiesen. Der Konvoi war geschlossen aufgebrochen, bald jedoch und mit zunehmender Erschöpfung erstreckte er sich über beinahe einen Kilometer. Die Soldaten begnügten sich damit, auf sie einzuschlagen, verzichteten aber darauf, sie anzutreiben. Die mit der Peitsche oder mit Schlagstöcken Traktierten fielen auf die Knie, sie konnten nicht mehr schneller gehen. Sie wurden für widersetzlich gehalten und mit Stockschlägen auf den Kopf umgebracht, die Kugeln sparte man sich. Wo es sie traf, fielen sie bewusstlos in den Schnee, was den Tod bedeutete. Dann gaben sie auf, ließen sie so gehen, wie sie es vermochten. Die Erschöpften wurden beim Gehen immer langsamer und landeten am hinteren Ende des Konvois, es bereitete ihnen zunehmend Mühe, die Füße aus den Schneeverwehungen zu ziehen, und schließlich blieben sie reglos im Schnee stecken, die Beine zu steif, als dass sie ihre Knie hätten beugen können. So starben sie im Stehen, die Arme seitwärts gestreckt, hochgeweht vom Wind, wie schwarze vertrocknete Bäume. Die Fuhrwerke, die der Gouverneur von Aleppo wegen der großen Zahl unterwegs vergessener Leichen und der Seuchengefahr für seine Stadt dem Konvoi hinterhergeschickt hatte, fanden sie mitunter auch nach einigen Tagen noch aufrecht stehend vor, die Arme knackten erfroren im Wind. Anfangs erschraken die Totengräber. Dann rissen sie sie einfach aus dem Schnee, als handelte es sich um Stämme, deren Wurzeln weggefault waren; sie sagten sich, die Erde sei all der Toten überdrüssig und habe beschlossen, diese stehend verenden zu lassen.
Sie schliefen in verlassenen Karawansereien, blieben mitunter zwei
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