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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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Tage, um sich ein wenig zu stärken. Aus Aleppo waren mit den Fuhrwerken für die Leichen ein paar Säcke mit Bulgur angekommen, eine Art geschälter und geschroteter Weizen, von dem jeder so viel bekam, wie in seine beiden zum Gefäß geschlossenen Handflächen passte. In Tefridje und danach in Lale hatten sie von weitem zahlreiche große Zelte gesehen, sie stützten sich auf Pfeiler, hatten Blechdächer, manche von ihnen sogar gemauerte Unterstände, sodass sie sich freuten, der Kälte zu entkommen. Aber man ließ sie nicht hin, sie durften sich bloß auf ein paar Dutzend Meter dem Gelände nähern. Damit der Weg nach Meskene nicht mit Leichen übersät würde, hatten die Behörden beschlossen, solche Niederlassungen einzurichten und die Sterbenden dort zu sammeln. Um diese kümmerte man sich nicht mehr, in jedem der Zelte lagen fünfzehn bis zwanzig Personen, die man dort sterben ließ. Ihr Zustand war erbärmlich, sie waren nicht mehr in der Lage, sich von der einen auf die andere Seite zu drehen oder das Gesicht vor dem herumwuselnden Ungeziefer zu schützen. Sie starben so, wie man sie abgelegt hatte, oftmals mit offenen Augen, denn ihre Lider waren schmal geworden und zu vertrocknet, als dass sie sich noch hätten schließen können. Deshalb wurden diese Lager nur von wenigen Posten bewacht, die keine Pistolen hatten, sondern Knüppel und Steine gegen die Hunde, Hyänen und Krähen, aber auch dabei ließen sie es an Eifer mangeln.
    Die Freude, sich solch einem Ort zu nähern, den sie als einen Schutz vor den Unwettern aus Wind, Regen und Schnee betrachteten, wurde von Verwunderung abgelöst und schließlich von Grausen, wenn der Konvoi in der Umgebung der Zelte angehalten wurde und man sich ihnen nicht nähern durfte. An jedem dieser Orte wurde der Konvoi von einer Gruppe Soldaten empfangen, die von einem Befehlshaber angeführt wurde, bei dem sich ein schwarz gekleideter Mann befand, der Doktor Effendi genannt wurde. Er ließ alle Leute im Konvoi in eine Reihe stellen. Sie mussten einen Schritt Abstand voneinander wahren, damit sie sich nicht gegenseitig stützen konnten. Einige fielen sogleich um und erleichterten somit Doktor Effendis Auftrag. Denn er war nicht gekommen, sich um die Lebenden zu kümmern, sondern um die Toten. Damit nicht so viele Leichen auf den Wegen liegen blieben, zumal Aleppo mit Konsulaten übersät war, die jederzeit Depeschen an die europäischen Höfe schicken konnten, wies Doktor Effendi auf die Moribunden, die sogleich gepackt und in die Zelte gebracht wurden, und wenn ihr Lebenswille noch einen leichten Widerstand zu erkennen gab, schlug man sie zusammen. Doktor Effendi beurteilte jeden einzeln und deutete mit dem Finger auf alle, die Flecken oder Ausschläge hatten, am ganzen Leib zitterten oder außergewöhnlich bleich waren, deren Augen schon tief im Schädel lagen oder in deren Mundwinkeln grünlich-roter Schleim vom Rasseln der durchlöcherten Lungen stand. An jedem der beiden Sterbelager verringerte sich der Konvoi um etwa ein Zehntel. Von den in Bab Losgezogenen gelangten mehr als ein Drittel nicht mehr nach Meskene. Viele hauchten ihre Seele in den beiden Raststätten der Sterbenden aus, die Leiber der anderen verloren sich unterwegs, ihr Fleisch schmolz mit dem Schnee und floss in Bächen dahin, während ihr Gebein im Geröll zermahlen wurde.
    In Meskene, an der Grenzlinie des vierten Kreises, trafen die Konvois wieder auf den Euphrat, das bewegte Grab vieler Tausender Deportierter. An der Flussbiegung jenseits von Meskene wurden die Leichen aus dem Norden angeschwemmt, die von den Fluten noch nicht unterspült und von den Fischen gefressen worden waren. Mit Bootshaken wurden die Leichen ans Ufer gezogen. Weil der Boden gefroren war und es zu viele Leiber waren, als dass man mit Gräbern etwas hätte ausrichten können, wurden sie mit Petroleum übergossen und angezündet. Der schwarze Rauch war vom Lager bei Meskene zu sehen, sodass die Deportierten wussten, warum er so dicht, warum der Scheiterhaufen so nass war und nur ein beinahe ersticktes Glosen zustande kam; auch wussten sie, was im Fluss schwamm, und gingen trotzdem ans Ufer, knieten nieder und tranken gierig von dem Wasser mit Leichengeschmack.
    Die einen errichteten sich wieder Zelte, andere installierten sich in verlassenen Zelten. Wie jedes Mal nach dem Eintreffen eines neuen Konvois stieg die Zahl der Toten an, um dann auf die übliche Zahl von fünf- bis sechshundert pro Tag zurückzugehen. Die Kälte hatte

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