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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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ein bisschen nachgelassen, vor allem tagsüber, nachts aber herrschte weiterhin grimmiger Frost. Regen und Schnee hielten an, wurden jedoch zur Wüste hin seltener. Auch die Luft wurde trockener, was den Atem der Sterbenden rasseln ließ. Das Lager wurde strengstens bewacht. Die wenigen, die der Bewachung entkommen konnten und auf den Feldern zur Stadt hin erwischt wurden, tauchten sie mehrmals bis an den Hals ins kalte Flusswasser und ließen sie am Flussufer im Wind zurück. Überlebten sie, so wurden sie zu den Zelten zurückgeschickt, wo sie kurz darauf bibbernd und phantasierend verlöschten.
    Mit einem Mal ging das Maultier in die Knie und wollte kein Wasser mehr trinken. Es war ein gutes Tier gewesen. Rupen streichelte ihm lange zärtlich über die Stirne, dann schlug er ihm mehrfach mit einem Stein auf die Stelle, die er zuvor gestreichelt hatte. Die Kinder beweinten es, aber als sie den süßlichen Geschmack des Fleisches verspürten, das nicht faserig war wie das der Krähen und auch nicht bitter wie das von anderem Aas, wischten sie sich die Tränen ab. Es reichte für ein paar Tage, und sie stärkten sich ein bisschen. Auch hatten sie je eine Handvoll Bulgur bekommen. Als sie angesichts dieses mildtätigen Aktes fragend den Blick erhoben, erfuhren sie von dem gleichen Kior Hussein, der die Flüchtenden damit bestrafte, dass er sie ins eiskalte Wasser tauchen ließ, den Grund: Ich will nicht, dass ihr hier sterbt. Wir haben auch so schon genug Kopfzerbrechen. Der Boden ist klebrig, schwer aufzugraben. Ihr werdet ohnehin sterben. Aber schleppt euch von hier auf den eigenen Beinen in die Wüste. Dort muss sich niemand mehr mit euch rumplagen. Wind und Sand werden euch dort begraben.
    Da begriffen sie, dass diejenigen, die je ein Kännchen Körner in die Handhöhlen bekamen, weiterziehen mussten. Man ließ sie an den Fluss und von dem Leichenwasser trinken, das, wie das Wasser des Jordan, den Geschmack von Menschenfleisch annehmen sollte. Der Bulgur verschaffte den ruhrgeplagten Eingeweiden vorübergehend Linderung. Und das Wasser ließ die unzerkaut verschluckten Körner im Bauch aufquellen, sodass sie ein schmerzhaftes Hungergefühl und gleichzeitig Sättigung verspürten. Denn der Körper verlangte nach noch mehr Kraft, während der Magen, eingeschrumpft vor Hunger, nun aufquoll, sodass seine vom endlos leeren Mahlen dünn gewordenen Wände zu platzen drohten.
    Sahag war abgemagert, seine Waden waren kaum ein bisschen kräftiger als seine Arme. Seine Mutter teilte ein, was ihnen an Mehl und Zucker noch in den Säckchen übrig geblieben war, die sie am Bahnhof von Konya von ein paar Händlern gekauft hatten, die wussten, wohin es mit ihnen ging, und deshalb noch einen Verzweiflungszuschlag berechneten, was den Preis verdreifacht hatte.
    Sie aßen abends, damit sie schlafen konnten, denn Hermine hatte beobachtet, dass man bei Nacht den Hunger viel schwerer erträgt, vielleicht weil der Körper dann in sich gekehrt ist. Anfangs hatte sie allen gleich viel davon abgegeben, später dann behielt sie weniger für die Erwachsenen und gab den Kindern mehr. Und in Meskene bekam die Alte überhaupt nichts mehr, die eines Abends ein großes Kreuz schlug, den Kopf zur Wand drehte und starb. So zusammengekauert, wie sie gestorben war, wurde sie am Morgen auf den Karren gehievt und anschließend auch ins Grab geworfen. Weil niemand sich mehr mit dem Waschen der Toten beschäftigte, niemand Totenwache hielt und ihnen im Sarg die Hände über der Brust faltete, hatte es auch keinen Sinn, ihnen warme Tücher um die Gelenke zu wickeln, um die Arme und Beine ausstrecken zu können. Sie hatten auch nichts mehr, womit sie dies hätten tun können, und selbst wenn sie sich die Mühe gemacht hätten, die steif gefrorenen und ausgetrockneten Gelenke wieder zu erweichen, wäre dies vergeblich gewesen, denn die Leiber wurden in den Massengräbern nicht einzeln niedergelegt, sondern aufs Geratewohl durcheinandergeworfen. Vielleicht hätten wir sie noch bis gegen Mittag behalten sollen, sagte Hermine. Bis dahin sind die Gräber aufgefüllt, und sie wäre weiter oben zu liegen gekommen ... Rupen antwortete nicht mehr, er zuckte nur noch mit der Schulter, und die Frau wusste nicht, ob dies nun seine Art zu sprechen war, oder ob er nur seinen zunehmend krummeren Rücken strecken wollte. Die Alte hatte den richtigen Zeitpunkt zum Sterben gewählt. Am nächsten Tag wurde ihre Lagerecke von Soldaten umstellt, die sie wieder zum Aufbruch

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