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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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konnte man sie nach einigen Stunden essen.
    Es regnete nicht, aber der Himmel war auch nicht klar. Durch die Nähe zur Wüste stieg immerzu eine Art Dunst auf, den der vom Wind aufgewirbelte Staub in die Höhe spannte. Auch die Hunde und Wölfe waren seltener geworden, dafür tauchten die Hyänen auf. Die konnte man schwerer fangen, sie waren schneller und vertrauter mit der trockenen Wüstenlandschaft. Und tote Hyänen waren keine zu finden, denn wenn sie ihr Ende nahen spürten, verschwanden sie in der Einöde, aus der sie gekommen waren. Die Krähen blieben, aber man konnte sie nur schwer treffen, denn in dem perlmutternen Dunst konnte man sie kaum von der vogelleeren Luft unterscheiden; selbst weiße und schwarze Engel wären hier ununterscheidbar geworden.
    Als das Gras aufgrund der Miasmen sowie der rings um das Lager weidenden Pferde der türkischen Soldaten immer weniger wurde, beschlossen Hermine und Rupen nach quälenden Erwägungen, Sahag zu den Kurieren zu schicken.
    Meine Großväter Garabet Vosganian und Setrak Melichian sangen, wenn sie einsam waren, keine Deportationslieder. Dies taten auch die anderen alten Leute meiner Kindheit nicht. Die Gedichte, die wir als Kinder bei unseren Begegnungen lasen, und die Lieder, denen wir lauschten, erinnerten vor allem an die Fedajin, die in den Bergen gekämpft hatten, und nicht an Massaker und Deportationen. Die Konvois waren schweigend die Stufen ihrer Initiation in den Tod hinabgestiegen. Vielleicht war ihr inneres Leid viel zu groß, als dass sie davon etwas hätten nach außen dringen lassen können. Vielleicht glaubten sie auch an kein Danach mehr.
    Doch obwohl nichts mehr nach draußen drang, schrieben die Deportierten noch für sich selbst. Die Manuskripte, die aus dem Raum jener sieben Todeskreise stammen, wurden überall dort auf den Deportationswegen geschrieben, wo man ein Stückchen Holz finden konnte, einen Kilometerstein, einen Stamm mit weicher Rinde oder eine Mauer. Lange, bis Regen und Wind sie löschten, überdauerten armenische Wörter und Buchstaben in Steine oder Rinden geritzt. Die hier vorbeizogen, hinterließen Nachrichten für die ihnen Nachfolgenden. Und diese fügten ihre eigenen Worte hinzu, wenn noch Platz übrig war. In den Lagern zirkulierten Papierblätter, die sich die Menschen weiterreichten. Aus Angst vor Repressalien waren diese weder gezeichnet noch datiert. Es war auch nicht nötig. Die Wirklichkeit war – anders als der Schnee, der sich in Matsch, und der Schlamm, der sich in umhertreibenden Staub verwandelte – unveränderlich.
    Die Nachrichten beschrieben die Zustände in jedem der Todeskreise. Die Kuriere überbrachten diese Nachrichten. Flinke Jungen wurden dafür ausgewählt, die sich unbemerkt durchschleichen konnten. Damit sie bei Kräften blieben und schnell ihre Wege schafften, bekamen sie Wegzehrung. Der eine oder andere kehrte nicht mehr zurück, einmal wurden sie in einen vorderen Konvoi gesteckt, womit ihr Weg bis zum Tod abgekürzt war, ein anderes Mal wurden sie unterwegs umgebracht. Deshalb waren die Kuriere immer Freiwillige und wurden unter den Waisenkindern ausgewählt, denn nur wenige Eltern konnten sich entscheiden, sich auf diese Weise von ihren Kindern zu trennen. Derjenige, der an diesem Ende der Konvois darüber befand, hieß Krikor Ankut. Und am anderen Ende der Konvois, in Deir-ez-Zor, entschied bis zu dem Augenblick, da er nach unvorstellbaren Qualen umgebracht wurde, Levon Șașian darüber.
    Krikor Ankut maß den Jungen von Kopf bis Fuß, er schlug ihm mit der flachen Hand auf die Brust und stieß ihn weg, aber Sahag hatte die Kraft, sich dagegenzustemmen, und fiel nicht um. Da beschloss der Mann, dass der Bub richtig war. Der Weg bis nach Deir-ez-Zor hätte etwa sechs Tage zügigen Gehens gedauert, aber die Kuriere gingen vor allem nachts und versteckten sich tagsüber in den Ausbuchtungen der Flussufer, wodurch der Hin- und Rückweg beinahe zwei Wochen dauerte. Sahag erfuhr den Namen dessen, der ihm im Lager von Rakka die Wegzehrung weiter bis nach Deir-ez-Zor zu geben hatte. Rupen und Hermine standen beiseite und schauten zu, sie wussten nicht, ob das, worin sie eingewilligt hatten, zum Guten ihres Sohnes oder zu dessen Verderben ausschlagen sollte. Vor dem Zelt stand jemand Wache, und ein anderer Mann brachte ein Gefäß mit Wasser. Dann wusch Hermine sorgfältig den Rücken des Jungen, und er legte sich, die Arme seitlich ausgestreckt, auf den Bauch. Krikor Ankut tauchte die Feder ins

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