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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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Tintenfass und schrieb bedächtig auf die Haut des Jungen, bedeckte den gesamten Rücken des Jungen bis hinab zum Steißbein mit großen, möglichst stilisierten und damit vereinfachten Buchstaben, damit er schneller fertig werde und den Jungen, der die Kratzer der Feder klaglos hinnahm, nicht unnötig verletzte. Dass seine Haut straff über die Knochen gespannt war, erleichterte den Vorgang. Nun blieb der Junge noch eine Weile reglos liegen, damit die Farbe trocknen konnte. Dann rührten sie etwas Erde in den Wasserkrug, sodass ein feiner Schlick entstand, den sie ihm über die Schultern strichen. Solcherart mit dem Schlamm eingerieben, war er nur ein bisschen schmutziger als vorher. Sie fragten ihn, ob er schwimmen könne, worauf der Junge antwortete, er sei am Ufer des Bosporus aufgewachsen. Dann wies ihm Krikor mit dem Finger auf dem Boden den Weg nach Deir-ez-Zor. Du gehst nachts. Hältst dich nahe am Ufer des Euphrat, gehst nicht zu weit davon weg. Wenn du merkst, dass du nicht mehr entkommen kannst, springst du ins Wasser und bleibst so lange drin, bis die Farbe aufgeweicht und abgewaschen ist. Sie dürfen nicht wissen, was da steht. Ebenso wenn du zurückkommst. Vor allem dann.
    Hermine nahm für den Jungen die Wegzehrung entgegen. Sie nahm je eine Handvoll Weizen- und Reiskörner für seine kleinere Schwester, dann umarmte sie ihn und er verschwand in der Nacht. Sie hatten sich nicht einmal verabschiedet. Bei so viel Tod ringsum, den sie als unausweichliche Tatsache hinnahmen, hatten sie sich schon lange voneinander verabschiedet.
    Sahag handelte, wie ihm geheißen worden war. Er teilte sich sein Essen ein, darbte auch drei Tage, aber aus Angst, dort nicht mehr wegzukommen, unterbrach er seine Reise nicht in Rakka. Als er in Deir-ez-Zor ankam, suchte er Levon Șașian auf. Dieser wischte ihm den Dreck von den Schultern und las Krikor Ankuts Botschaft, dann reinigten sie ihn wieder, beschrifteten seinen Rücken mit neuen Buchstaben und trugen ihm die Haut aus Dreck und Asche auf. Zurückgekehrt, erhielt er von Krikor Ankut erst einmal eine Schale Wasser und eine Handvoll Bulgur. Er ließ ihn von den Frauen reinigen, und als er las, bat er darum, allein gelassen zu werden. Mit seinen eigenen Händen wischte er die Schrift vom Rücken des Jungen und sagte: Sag niemandem, was du in Deir-ez-Zor gesehen hast. Die meisten werden dir nicht glauben, und damit wird es dir nichts nützen. Und denen, die dir glauben, wird es erst recht nichts nützen. Geh zurück zu deinen Eltern. Als sie ihn sah, umarmte Hermine ihn unter Tränen, sie weinte nicht vor Freude, ihn wieder an ihrer Seite zu wissen, sondern aus Mitleid.
    Mitte April wurde das Lager bei Dipsi aufgelöst, und die letzten Konvois zogen den Euphrat entlang weiter. Das Lager war von Soldaten und berittenen Gendarmen umstellt worden, die zwischen die Zelte stürmten, mit Stöcken und Peitschen um sich schlugen, die Zelte durchstöberten und die Leute zum Rand hin scheuchten, wo sich die Konvois formierten. Als alle, die sich auf den Beinen halten und im Rhythmus der Pferde aus dem Zeltlager hatten laufen können und damit die Sterbenden verlassen hatten, beisammenstanden, wurde das Zeichen zum Aufbruch gegeben. Nach etwa einer Stunde Wegs auf die Hügel zu sahen sie dichten Rauch aufsteigen. Die Zelte waren mit Benzin übergossen und angezündet worden. Aus der Farbe des Rauches und den Formen der Rauchschwaden schlossen sie, dass mit den Zelttüchern auch menschliche Körper brannten, trockene und feuchte, sterbende, alles durcheinander.
    RAKKA. DER SECHSTE KREIS . Der Weg dauerte länger als eine Woche. Tagsüber war es glühend heiß, aber die Nächte blieben bitterkalt. Die Leute gingen immer langsamer, schwankten. Diesen schlafwandlerischen Kolonnen, gleichgültig gegenüber ihren berittenen Antreibern und deren Peitschen, drohte wenigstens kein Überfall mehr durch irgendwelche bewaffneten Banden, sie konnten nicht mehr ausgeplündert werden. Nur wenn sie rasteten, näherten sich Araber und kauften mit Weizensäckchen Mädchen. Der Konvoi hielt sich am rechten Euphratufer und gelangte schließlich nach Sebka. Am gegenüberliegenden Ufer lag Rakka, die ihnen verbotene, von hier aus rätselhaft anmutende Stadt. Das Wasser des Euphrat konnte den Durst der Deportierten stillen. Aber die Chancen, etwas Essbares aufzutreiben, waren äußerst gering. Ab und zu verteilten die Gendarmen von den durchgaloppierenden Pferden herab Behälter mit Lebensmitteln, die von

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