Buch des Flüsterns
drängten. Nachdem das Maultier tot war, hätte die Alte ohnehin nicht mehr mitkommen können, also hätte man sie zu den Karren mit den Sterbenden geschleppt, die zurück nach Lale fuhren, wo allein das Ungeziefer und die Geduld, mit der die nebeneinander liegenden Sterbenden ihr Ende erwarteten, im Überfluss vorhanden waren.
DIPSI. DER FÜNFTE KREIS . Für gewöhnlich lagen Meskene und Dipsi nur gute fünf Stunden Fußmarsch auseinander. Der Konvoi benötigte aber knapp zwei Tage. Zum ersten Mal begegneten ihre Schritte sandigen, die Wüste ankündigenden Landstrichen.
Die Fuhrwerke, welche die Toten und Sterbenden eingesammelt hatten, begleiteten sie nun nicht mehr. Ab und zu warteten die Totengräber, die die Leichen einsammelten, bis sich ein Wind erhob, der die Haufen zerlumpter und geschwärzter Leiber mit Sand bedeckte. Die zwei Tage verliefen aber ruhig. Der Himmel hatte aufgeklart, der Wind sich gelegt. Die Leichen lagen am Wegrand, die meisten von ihnen waren von Tieren angefressen. Unter ihnen sterbende, erschöpfte, vor Hunger und Durst zusammengebrochene Frauen und Männer, Kinder, die nicht begriffen, was mit ihnen geschah, und an Steine oder vertrocknete Baumstämme gelehnt den Tod erwarteten. Die Bestrebung, aufrecht sitzen zu bleiben, war das letzte Aufbäumen gegen den Tod, denn sonst, am Wegrand liegend, hätte sie der Sand bedeckt und erstickt.
Das Lager, bestehend aus ein paar Tausend Zelten, lag in einem Tal am rechten Ufer des Euphrat. Bei seiner Einrichtung an dieser Stelle – umringt von Hügeln – hatte man bedacht, dass sich die andauernden Todesmiasmen sowie die der Ruhr und des Typhus hier nicht so leicht ausbreiten konnten. Die Wegstrecke zwischen Meskene und Dipsi war kürzer als die zwischen Bab und Meskene, weshalb der Gouverneur von Aleppo an den Zwischenstationen keine Asyle für die Sterbenden mehr einrichten hatte lassen, die euphemistisch Hastahane, nämlich Spital, genannt wurden. Dafür wurde das gesamte Lager bei Dipsi Hastahane genannt, denn nach den zwei Tagesmärschen über sandige Wege und danach über schmale Gebirgspfade waren die ankommenden Konvois mehr als erschöpft. Und es hatte diesen Namen auch redlich verdient, schließlich starben in den paar Monaten, in denen das Lager als Konzentrationslager diente, darin mehr als dreißigtausend Menschen.
Das sogenannte Spital verfügte über keinerlei Medikamente, und es gab auch keinen Gesundheitsdienst, lediglich ein paar armenische Ärzte unter den Deportierten, die noch überlebt hatten und nicht mehr tun konnten, als die Krankheit zu benennen, falls diese nicht offensichtlich war, sowie die Tage bis zum Eintritt des Todes abzuschätzen. Das Lager bei Dipsi war eine der untersten Stufen bei dieser Initiation in den Tod, nicht so sehr aufgrund der großen Zahl derer, die hier ihr Ende fanden, als wegen der noch sehr viel größeren Zahl derer, die sich hier ansteckten und andernorts verblichen, auf dem Weg nach Deir-ez-Zor, dem Ort, an dem auch die siebte Hülle des Todes fiel.
Nun war es März geworden. Die Regenfälle hatten aufgehört. Hin und wieder, abends oder am frühen Morgen, ballte sich noch eine Wolkenwand zusammen. Für die Deportierten kam der Frühling schier unmerklich, sie schauten nicht mehr herum, und wenn, dann aus Angst, wegen des Pferdegetrappels oder der Flinten und Rufe der Beduinen. Sie schauten vor allem zu Boden. Und so entdeckten sie den Frühling. In der Gegend um Abuhanar, Hamam, Sebka und Deir-ez-Zor, wo die Bäume immer seltener wurden, kam der Frühling unerwartet, wenn die Grasbüschel mit ihren feinen und langen Fäden zu sprießen begannen. Anfangs wussten sie nicht, wie sie dieses Gras essen sollten, an seinen messerscharfen Rändern schnitten sie sich die Münder blutig und erstickten beinahe an den faserigen Halmen. Dann aber unterwiesen die Erfahreneren und Geduldigeren sie in der Fertigkeit des Gras-Essens. Man musste die Grashalme in der Hand zu einem Knäuel kneten, darüber ein bisschen Salz streuen, damit der Grasknödel sich anfeuchtete. Auch zerkaute man ihn nicht sogleich, man musste ihn mit so viel Speichel aufweichen, wie man in seinem ausgetrockneten Mund zusammenbekam, ihn dann ein paar Minuten im Mund behalten, sodass der ausgehungerte Mund ihn in eine Paste verwandeln konnte. Wenn kein Gras mehr zu finden war, riss Rupen die Wurzeln aus dem Boden und wusch sie im Wasser des Euphrat. Er zerschnitt sie in kleine Stückchen und weichte sie in Wasser ein, dann
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