Buch des Flüsterns
den ausländischen Konsulaten oder aus christlichen Gegenden geschickt worden waren. Aufs Geratewohl dahingeworfen, wurde der größte Teil davon sinnlos verstreut. Die Leute zerrten an den Mehl- oder Zuckersäcken, und die Pulvermasse rieselte ihnen über die reißenden Fingernägel. Andere Hilfsgüter, etwa Kichererbsen oder Reiskörner, konnten nicht mehr gegessen werden, weil ihnen die Zähne fehlten. Die Leute verschlangen sie unzerkaut, aber ihr Magen konnte sie nicht mehr verdauen, er hatte mittlerweile diese Fähigkeit verloren oder aufgrund der Ruhr keine Zeit mehr dazu. Rupen ging nicht mehr auf die Jagd, Hunde gab es nur noch selten, und die Wölfe strichen im Rudel durch die Gegend. Und nicht selten hatten sie sich auf die im Müll Herumstochernden gestürzt und sie zerfleischt. Er ging mit den anderen die Toten einsammeln und beteiligte sich beim Ausheben der Massengräber, was nun leichter war, denn hier musste man nicht mit der Spitzhacke den festen oder klebrigen Boden aufhacken, es genügte, wenn man den Sand mit der Schaufel wegschippte, als hätte man eine Düne von einer Seite auf die andere verlegt. Etwas erschwert wurde diese Unternehmung dadurch, dass die Gräber sehr viel tiefer sein mussten, sonst hätte der Wind die Grabhügel weggeweht, und die Toten wären unbedeckt liegen geblieben.
An den Massengräbern betete niemand. Darin wurden vor allem die neuen Toten beigesetzt. Von den in abgelegene Gegenden geleiteten Konvois, wo sie leicht zu umstellen und niederzumetzeln waren, von den Konzentrationslagern bis hin zum Tod durch Erschießung, Verhungern, dem Ertränken in eiskaltem Wasser oder dem Verbrennen der lebendigen Moribunden – alle zur Ermordung der Armenier auf den Wegen Anatoliens von Konstantinopel bis nach Deir-ez-Zor und Mossul benutzten Methoden wurden später von den Nazis gegen die Juden angewandt. Allein, dass in den nationalsozialistischen Lagern die Gefangenen Nummern trugen, und diese makabre Zählung die Verbrechen am jüdischen Volk noch grausamer erscheinen ließ. Es sind nicht mehr Tote, die diese Vernichtungsaktion am armenischen Volk zurückgelassen hat, wenn man überhaupt Verbrechen solchen Ausmaßes durch Zahlen vergleichen kann, aber es sind ungezähltere. Die Namen, die wir kennen, sind die der Henker: Gouverneure, Lagerkommandanten, Paschas, Beys, Aghas und sonstige kleine Würdenträger. Die Opfer haben selten einen Namen. Niemals war der Tod, der von Kreis zu Kreis immer weitere Hüllen abwarf, näher an seinem eigenen Kern, niemals war der Tod namenloser.
Noch hat man keine Tradition entwickelt hinsichtlich der Anlage von Massengräbern. Auf welche Weise müssen die Gräber ausgehoben, wie sollen die Leichen hineingelegt werden, etwa die Männer unten, in die Mitte die Frauen und obenauf die Kinder, wie müssen die Leichen gewaschen, wie sie gekleidet werden, was für ein Gebet hat der Priester zu sprechen, und von welcher Art himmlischer Ruhe redet er, was für ein Kreuz wird gesetzt, wie viele Querbalken müsste dieses Kreuz haben, und was stünde eigentlich darauf. Nichts dergleichen. Jedes Massengrab hat sein eigenes Gesetz, und die einzige gemeinsame Eigenschaft ist die Eile, mit der Massengräber angelegt werden. Was jeden Gedanken an beständige Gewohnheiten zunichtemacht, denn es gibt keine Tradition der Eile. Gräber bekommen einen Namen und werden geschmückt, damit die darin Beerdigten nicht gänzlich vergessen werden. Massengräber werden gemacht, damit die dort Hineingeworfenen so schnell wie möglich vergessen werden. Die Massengräber sind der schuldbeladenste Teil der Geschichte.
Aus diesem Kern des namenlosen Todes habe ich sieben Kreise gezeichnet, deren Mittelpunkt Deir-ez-Zor ist. In dem von ihnen bezeichneten Raum, dessen weiteste und äußerste Linie durch Mamura, Diarbekir und Mossul führt, sind damals über eine Million Menschen gestorben, etwa zwei Drittel aller Toten des Genozids an den Armeniern. Wir wissen, dass sie dort waren, und dass von denen, die in die Todeskreise eingetreten waren und nicht islamisiert, als Sklaven verkauft oder für Harems weggegeben wurden, so gut wie niemand entkommen ist. Jeder konnte überall zu Tode kommen. Es gibt auf der ganzen Welt keine Armenierfamilie, aus der niemand, wie in einem Wirbel, in den Todeskreisen verschwunden ist. Mithin kannst du am Rande jedes Massengrabes beten und denken, es befinde sich jemand aus deiner eigenen Familie darin.
Rupen wusste, dass er etwas Gutes tat. Der Tod
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