Buch des Flüsterns
war für die Lebenden eine Zuflucht aus ihrer entwürdigenden Lage, und die Massengräber waren für die Toten eine Zuflucht aus ihrer peinlichen Lage. Aber es gab noch einen weiteren Grund, weshalb Krikor Ankut und ein paar kräftigere Männer beschlossen hatten, sich beim Abholen der Toten aus den Zelten und beim Ausheben der Massengräber zu beeilen. Vor ein paar Tagen hatten sie aus einem Zelt, in dem eine größere Familie wohnte, einen Toten ohne Gesicht herausgeholt. Lange betrachteten sie die Leiche mit dem wie von Ratten weggefressenen Gesicht. Aber im Lager gab es keine Schlupflöcher, also gab es auch keine Ratten. Sie begriffen es alle, aber sie sagten kein Wort, auch legten sie kein Schweigegelübde ab, denn sie spürten, dass niemand über so etwas Schreckliches erzählen würde. Als sich solche Anzeichen häuften, beschlossen die Männer, morgens und abends in den Zelten nachzusehen, damit keine Leiche zu lange dort bleibe.
Von Aleppo wurden neue Garnisonen nach Rakka und Sebka geschickt. Die Soldaten und Gendarmen hielten sich in einiger Entfernung vom Lager. Es bereitete keine Mühe, das Lager zu verteidigen. Seine nördliche Begrenzung bildete das Flussufer, und der Euphrat war selbst für einen kräftigen Mann nur schwer zu bezwingen. Links und rechts erstreckten sich die flachen Felder, auf deren Weiten man sich nicht verstecken konnte, und im Süden die Wüste. Und tatsächlich, außer den kleinen Kurieren gelang es nur wenigen zu entkommen; indem sie sich in die vereinzelten Gruppen der Jahrmarktsfrauen auf dem Weg nach Rakka einschlichen und von dort aus den umgekehrten Weg der Konvois nahmen, nach Bab und Mamura oder nach Norden hin, auf Urfa zu.
Die Soldaten bewachten aber nicht nur die Menschen. Sie bewachten auch die wilden Tiere und selbst die Vögel. Die Bewohner von Rakka und die Beduinenstämme fürchteten die Seuchen, die in den Deportiertenkonvois wüteten. Deshalb hatte der Gouverneur von Aleppo es den Totengräbern außerhalb der Konvois verboten, sich dem Lager zu nähern, und die ins Lager geschickten Fuhrwerke wurden den Deportierten überlassen. Und wenn die Deportierten die Pferde nicht getötet hatten, um sie aufzuessen, wurden sie erschossen, damit sie nicht eine der Krankheiten übertrugen. Nachdem sie widerstandslos hatten wüten können, waren sie bösartiger geworden, sodass es kein Heilmittel für sie gab.
Wie sie so dastanden und zu den Zelten schauten, sich die Stiefel polierten, die Pferde striegelten oder die Waffen putzten, sahen die Soldaten in ihren neuen Uniformen aus, als wollten sie zur Parade aufbrechen. Die Gesichter der Deportierten sahen sie nicht, die waren zu weit weg, und wenn sie näher kamen, um ihnen Hilfsgüter zuzuwerfen, rasten sie mit ihren Pferden dahin, mag sein, dass dies ohnehin keinerlei Bedeutung hatte. Außerdem beruhte dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit. Für die Deportierten hatten alle Soldaten das gleiche Gesicht, und für die Soldaten waren die Häftlinge vollends gesichtslos, ja entbehrten sogar aller menschlichen Eigenschaften, da man ihnen befohlen hatte, mitleidlos auf alles zu schießen, was den Versuch unternahm, den sechsten Kreis zu verlassen: Mensch, Tier oder Vogel.
Während die Deportierten nach monatelanger Plage und ständigem Hungern sich immer ausgemergelter fühlten, waren die Soldaten immer ausgeruhter, denn die Deportierten waren zunehmend einfacher zu bewachen, auch musste immer öfter gerastet werden. Und die Unverträglichkeit zwischen beiden Gruppen wurde noch dadurch verstärkt, dass die Deportierten immer weniger anhatten und zerlumpter aussahen, während die Uniformen der Soldaten stets wie neu funkelten und ihre Pferde aufgeputzt waren.
Den Männern war es gelungen, ihre Arbeit so zu organisieren, dass die Toten so schnell wie möglich abgeholt wurden. Kam ein neuer Konvoi aus Abuhahar und Hamam, so erweiterten sie umgehend ihren Tätigkeitsbereich und holten auch dort die Leichen ab. Sie arbeiteten jetzt im Rhythmus des Sterbens. Dies hatte jedoch schlimme Folgen, denn der Tod, der sich solcherart bestätigt sah, beschleunigte seinen Rhythmus. Andererseits gab es auch den Soldaten zu denken, die begriffen, dass sich die Menschen im Lager von Sebka anderen Ordnungen unterwarfen als der des Todes, und wer den Mut hat, sich der Ordnung des Todes zu widersetzen, kann sich allem und jedem auf dieser Welt widersetzen. Also beschleunigten sie den Abgang der Konvois nach Deir-ez-Zor, um die Ordnung
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