Buch des Flüsterns
der Euphrat die Konvois ihrem Schicksal überließ und abbog, um sich mit dem Tigris zu vereinen.
DEIR-EZ-ZOR. DER LETZTE KREIS . Der Konvoi bestand hauptsächlich aus irgendwelchen Schemen. Sie wirkten leicht, als wehte sie eben der Wind herbei, ein Vogelschwarm, der sich soeben herabsenkt, und nicht eine Menschenkette. Die fremden Reisenden, denen es gelungen war, sich den Konvois anzunähern oder ihnen nachzufolgen, haben auf ihren Fotos die erschöpft am Wegrand den Tod Erwartenden abgebildet; auf der Wegstrecke nach Deir-ez-Zor zeigen diese Fotos vor allem Kinder. Der Weg in den siebten Kreis war eine Art Kinderkreuzzug, den das Schicksal aller unbewaffneten Kreuzzüge erwartete. Die Kinder auf jenen Fotografien sind nur noch Skelette, ihr Körper ist geschrumpft, der Bauch eingefallen, die Rippen schießen wie Stahlbogen über der Bauchhöhle hervor, Arme und Beine sind stockdünn, die Köpfe unverhältnismäßig groß, ebenso die Augenhöhlen, aus denen die Augäpfel hervorquellen oder in der Tiefe des Schädels versinken. Die Kinder schauen ausdruckslos oder verwirrt und wie von einer anderen Zone her, sie strecken keine Hände mehr aus, verlangen nichts. In ihren Augen ist kein Hass, sie haben noch nicht lange genug gelebt, als dass sie verstehen und verurteilen könnten. Auch ist da kein Verlangen mehr, denn sie haben vergessen, was Hunger ist, keine Traurigkeit, denn sie haben die Freuden der Kindheit nicht erlebt, kein Vergessen, denn sie haben keine Erinnerungen. In ihren Augen sitzt das Nichts, die halboffene Fensterluke hinüber in ein anderes Gefilde.
Der Zusammenbruch einer Frau war auch das Todesurteil für ihr Kind. Meistens blieb es bei der Mutter sitzen, und sie erwarteten beide ihr Ende. In Angst und Schrecken bemerkte Hermine die roten Typhusflecken im Gesicht des Mädchens. Aufgrund der Hitze wurden die Flecken rasch größer. Das Kind um die Schultern an sich drückend, schritt Hermine mit Tränen in den Augen voran. Sahag wollte ihr beistehen, aber seine Mutter ließ ihn nicht in ihre Nähe, wollte ihn vor der Krankheit bewahren. Auch berührte sie ihn nicht mehr, nur wenn er schlief, betrachtete sie ihn genau, suchte mit angehaltenem Atem nach Krankheitssymptomen. Manchmal meinte sie bestürzt, solche entdeckt zu haben. Dann aber atmete sie wiederum erleichtert auf, es waren bloß Staubflecken, die vom Schweiß angefeuchtet die Farbe getrockneten Blutes angenommen hatten. Sie umarmte ihn nicht im Schlaf, streichelte nur ihr Mädchen, auch kümmerte es sie nicht, dass sie selbst erkranken könnte, im Gegenteil, der Gedanke daran, das Kind in jener anderen Welt alleine lassen zu müssen, entsetzte Hermine. Da sie nicht wusste, wie sie ihre Tochter heilen könnte, betete sie darum, zusammen sterben zu dürfen.
Die Strecke von Sebka nach Deir-ez-Zor war die längste und furchterregendste von allen. Beinahe hundert Kilometer Fußmarsch. Weil die Hitze auch den berittenen Soldaten zu schaffen machte, die neben den Konvois in ihren Sätteln dösten, während sich die Deportierten mit im glühend heißen Sand verbrannten Füßen noch eben so dahinschleppten, wurde beschlossen, nachts weiterzugehen, tagsüber rasteten sie am Flussufer, wo ab und zu eine kühle Brise heranwehte. Die wenigen verbliebenen Männer improvisierten Zelte zum Schutz vor der vernichtenden Hitze. Den einen oder anderen packte der Irrsinn im Schlaf: Sie zitterten, schlugen um sich und mussten mit kräftigen Hieben geweckt werden, damit sie nicht im Schlaf erstickten. Andere wurden im Wachzustand irre, brachen plötzlich aufs Geratewohl auf, aber ihr Weg endete recht bald, denn sie hatten die Fähigkeit verloren, auf der Hut zu sein, und wurden von Kugeln niedergestreckt.
Es waren Konvois ohne Schatten. Tagsüber auf dem Boden liegend, warfen sie selbst keinen Schatten, und dort, wo sich ein Fleckchen Schatten zeigte, hüllten sie sich darin ein wie in ein Leintuch. Die Schatten klebten wie Schweiß an ihren Leibern. Nachts, wenn sie zögerlich dahingingen, über Steine stolperten oder in Mulden am Wegrand fielen, wurden sie zu ihren eigenen Schatten. Die Konvois waren derart geschwächt, dass sie nicht einmal die Kraft mehr hatten, Schatten zu werfen und diese dann wie ein Fischnetz hinter sich herzuziehen. Die schattenlosen Konvois benötigten beinahe zwei Wochen, um von Sebka nach Deir-ez-Zor zu gelangen.
Das Lager befand sich auf dem rechten Euphratufer. Diesmal zählten die Zelte nach Zehntausenden. Deir-ez-Zor war
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