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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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durcheinanderzubringen. Das Lager in Sebka konnte jedoch die Mannschaften zum Einsammeln der Toten ergänzen; sie füllten sich vor allem aus Angst auf, nicht aus Todesangst, sondern aus Angst vor sich selbst.
    Diese Fähigkeit zur Selbstorganisation, so ungewöhnlich sie in einem Lager mit zerlumpten und todgeweihten Menschen auch erscheinen mochte, konnte in Sebka, wo es nur ein paar Tausend Zelte gab, noch hingenommen werden, in Deir-ez-Zor aber, dem Mittelpunkt des siebten Kreises, wo die Deportierten nach Zehntausenden gezählt wurden, hätte sie gefährlich werden können.
    Deshalb ließ der Kommandant eines Morgens verlauten, dass sich alle Männer zwischen fünfzehn und sechzig Jahren am Rande des Lagers zu versammeln hätten. Sie würden zur Arbeit geschickt werden, zu Terrassierungsarbeiten. Und sie würden selbstverständlich Essen und Trinkwasser erhalten. Sie traten aus den Zelten, einige mit der Vorstellung, sie würden verschont werden, wenn man ihrer bedarf und sie zur Arbeit heranzieht. Andere traten zögerlich heraus und erst als die Vorsteher sie ermahnt hatten, man würde Reiter schicken und sie aus den Zelten scheuchen. Wieder andere, wie Rupen, reihten sich gleichgültig ein. Seit er Engelsjäger geworden war und ihn die Farbe des Gefieders gleichgültig ließ, es nur noch um das faserige Fleisch darunter ging, herrschte eine große Leere in ihm, er lebte nur noch, um seine Kinder zu beschützen. Deshalb auch hielt er Sahag zurück, als dieser im Glauben, er könnte mit seinen vierzehn Jahren in die Reihe der Männer aufgenommen werden, hinter ihm aus dem Zelt schlüpfte, und verpasste ihm zwei Ohrfeigen rechts und links, die den Jungen verblüfften, aber seinen Drang besänftigten.
    Manch einer hatte sich vorgenommen, sich zu verbergen. Etwa der Mann der Frau aus dem Nachbarzelt, mit denen sie sich angefreundet hatten. Zusammen ergaben sie ein Ganzes, und deshalb konnte ein jeder der beiden, der Mann und die Frau, die Gestalt des anderen annehmen. Beim Zusammenstellen der Konvois erregte Năluță, schmale Hüften und entsprechende Brüste, in Männerkleidern niemals die Aufmerksamkeit der Soldaten und konnte sich stets vor denen verbergen, die nach Frauen suchten. Und der Mann, schlank und mit bartlosem Kinn, die Haare in der Wildnis gewachsen, zog Frauenkleider an und erwartete atemlos die Inspektion der Zelte. Aber die gab es nicht. Als die Männer aufgereiht und gezählt waren, beschloss man, dass fünfhundert eine zufriedenstellende Zahl sei, und gab den Befehl zum Aufbruch.
    Ohnehin wurde der Männeranteil in den Konvois vermindert. Während sie nach Deir-ez-Zor zogen, waren die Männer das bevorzugte Ziel kriegerischer Angriffe. Mitunter wurden die Konvois von Anfang an zur Fehlervermeidung in Männer und Frauen aufgeteilt; die Männer wurden unterwegs aus Hinterhalten heraus von Kriegerbanden angegriffen oder gleich von den Soldaten erschossen, die sie eigentlich hätten beschützen müssen. Somit bestand der größte Teil der Konvois aus Frauen, Kindern und Alten. Letztere starben fast alle, weil sie mit den anderen bis nach Sebka nicht Schritt halten konnten. Manche der Konvois, vor allem die aus dem Westen, hatten bis hierher tausend Kilometer zurückgelegt.
    Die zwei nicht im Zorn, sondern aus Verzweiflung verabreichten Ohrfeigen waren die letzte Erinnerung Sahags an seinen Vater Rupen Șeitanian. Die Männer wurden nach Süden geführt, auf die syrische Wüste zu, und erschossen. Und der Tod kehrte zurück, alles überwindend legte er sich wie ein Tümpel aus grüner Seide über das Lager.
    Als der Konvoi mit Hermine und ihren beiden Kindern sowie den zwei Verliebten aufbrach, ging der Frühling zu Ende. Die Wasser des Euphrat hatten sich etwas beruhigt und geklärt. Weil es in den Wilajeten an den beiden Quellgebieten des Euphrat mittlerweile keine Armenier mehr gab, waren auch die Leichen im Fluss seltener geworden, und den von den Fischen Gefressenen, in den Flusswirbeln Verschwundenen oder im Wurzelwerk der Ufer Verfangenen folgten keine nach. Wie jedes andere Grab auch, hatte sich der Euphrat geschlossen und neuem Leben Raum geboten.
    Wäre der Weg von Meskene nach Deir-ez-Zor einer anderen Strecke gefolgt, so wären die Deportierten längst verdurstet, zumal nun die große Hitze begonnen hatte. So aber bot der Fluss, der so lange sein totes mit lebendigem Wasser vermengt hatte, jetzt seine sanft dahinplätschernden, sauberen Wellen an. Und so blieb es bis nach Deir-ez-Zor, wo

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