Buch des Flüsterns
der letzte und am weitesten östlich gelegene Ort, an dem man noch solch ein Lager unterhielt. Von Deir-ez-Zor aus gab es keinen Rückweg mehr in diese Welt.
Deshalb bekamen die Deportierten nichts mehr zu essen. Da die Vegetation spärlich war und sich die Zahl der Männer, die von den Leichen angelocktes Wüstengetier hätten erlegen können, verringert hatte, wurde der Hunger unerträglich. Die Menschen waren so geschwächt, dass sich die Krankheiten sehr viel langsamer ausbreiteten, denn der Organismus hatte keine Kraft mehr, eine Krankheit anzunehmen. Die Typhuskranken bekamen kein Fieber, denn sie konnten keine Antikörper mehr ausbilden. Angesichts des Hungers hatten sich die anderen Krankheiten zurückgezogen und es ihm allein überlassen, in die Bäuche zu beißen, die Haut von den Knochen zu ziehen und die Leiber von innen her auszutrocknen.
Auch gab es immer weniger Zwischenfälle. Nachdem die Lagerleitung die Gruppe um Levon Șașian enttarnt hatte, die nicht bloß die lebenden Nachrichtendienste zwischen den Lagerorten mit der Schrift auf der Haut der Waisenknaben organisiert hatte, sondern auch ein bescheidenes Versorgungssystem mit Medikamenten und Lebensmitteln sowie das gleiche System zur Beerdigung der Leichen im Rhythmus des Sterbens wie in Sebka, nachdem all dies entdeckt worden war, hatte man Levon Șașian aus dem Lager geholt, und der Lagerleiter persönlich, Zeki Pascha, hat ihn bestialisch ermordet. Jede Form der inneren Organisation des Lagers wurde unterdrückt, und auf diese Weise war nach Meinung der Soldaten jede Gefahr einer Revolte verschwunden. Das Lager versank in Lethargie. Die Angst der Soldaten vor einer Revolte mag als unbegründet erscheinen, zumal sie bestens ausgestattet waren, ausgeruht bis zur Langeweile und bis an die Zähne bewaffnet, während die Deportierten nur noch Skelette waren, zerlumpt und zögerlich dem Todestaumel hingegeben. Die Soldaten aber hatten sich tatsächlich gefürchtet, ebenso die Behörden in Aleppo und Deir-ez-Zor. Die Soldaten hatten gegen andere Soldaten zu kämpfen gelernt, und ihre Waffen waren angefertigt worden, damit sie bedrohlich auf Feinde wirkten, die sich vor dem Tod fürchteten. Noch waren keine Waffen erfunden worden, die geeignet gewesen wären, jene zu beeindrucken, die sich vor nichts mehr fürchteten. Ausgemergelt und von Hunger zerfressen, war den Deportierten nicht bewusst, dass eben die Hinnahme des Todes eine Macht bedeutete, die zu Recht gefürchtet wurde. Obwohl diese Kraft der Furchtlosigkeit vor dem Tod in jedem neuen Kreis zunahm, war der Weg durch die sieben Kreise des Todes von keiner Revolte begleitet. Der Weg der Konvois bedeutete vielmehr Todeserwartung. Der durch das Lager irrende Tod war einer von ihnen geworden, er war eines der Opfer in den Kreisen von Deir-ez-Zor.
Und nach draußen drang er nur als ein stummes Gemurmel. Ein deutscher Reisender, dem es gelungen war, die Deportierten in Deir-ez-Zor zu sehen, war zutiefst verstört, nicht etwa von den offensichtlichen Dingen, die seine Fotos in aller Schrecklichkeit aufzeigen, sondern von einem Detail – an diesem grausamen Ort hatte er keine weinenden Menschen gesehen. Besser gesagt, er hat das nicht gesehen, was man für gewöhnlich unter einem weinenden Menschen versteht, das heißt, er hat keine Tränen gesehen.
Auch ist es nicht wahr, dass die Leute nicht weinten. Aber sie weinten anders. Wer noch die Kraft hatte, aufrecht zu sitzen, wiegte sich in den Hüften, die anderen weinten mit weit geöffneten Augen gegen den Himmel. Aber das Weinen war eine Art ununterbrochenes Stöhnen mit tiefer Stimme, das aus Tausenden von Brustkörben quoll und sich wie ein Generalbass anhörte. Das Weinen war kein Tränenfaden über der Wange, sondern ein Ton. Weil dieser Generalbass endlos dahinfloss und sich auf die Umgebung eingestimmt hatte, wirkte er wie das Rauschen des Windes zwischen den Dünen oder das Dahinfließen des Euphrat und hörte keinen Augenblick lang auf, bis die letzten Konvois aus Deir-ez-Zor auf die Plateaus geführt worden waren, auf denen die Deportierten umgebracht wurden. Dieses trockene Weinen ersetzte die Gebete ebenso wie Verwünschungen, Schweigen und Bekenntnisse, und manch einem ersetzte es auch den Schlaf. Viele schliefen auf diese Weise weinend ein, andere starben mit diesem Weinen, und das Weinen vibrierte in der erstarrten Brust weiter, wie in einer Orgelpfeife. Ich hörte dieses Weinen, wenn Großvater Setrak sich im Garten im
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