Buch des Flüsterns
die Gesichter glänzten und wurden von den Flammen in die Länge gezogen, der Rhythmus der Trommeln vereinte sich mit dem Händeklatschen, und die Frau drehte sich, von ihrer Jugend getragen und der Freude am Geschenk. Das der Junge sah, als sie mit wiegenden Hüften und aus den Schultern heraus die Brüste schwenkend vor ihm stand. Der an einem Goldkettchen hängende, stolz allen zur Schau gestellte Talisman erinnerte ihn an die Zurückhaltung seiner Mutter, die ihn stets verborgen unter ihren Kleidern getragen hatte. Keiner beachtete ihn, als er aus dem Zelt schlich. Die Sinne aufgewühlt, rannte er wie irr durch die Gegend. Auch er wusste nicht, wovor er davonlief, rannte, bis es ihm den Atem verschlug und er auf die Knie fiel. Und weil er das Bedürfnis verspürte, aus seinem Leib zu fahren, sich loszureißen von sich selbst, schrie er. Er setzte sich in den Sand, wiegte seinen Oberkörper und schrie so laut er konnte. Als sein Schreien verloschen war und das Stöhnen aus Deir-ez-Zor seine Stelle eingenommen hatte, jenes trockene Weinen, war Yusuf tot. Er war ein unglückliches, fremdes und stilles Wesen gewesen, an Orten und zwischen Göttern herumgeirrt, die er nicht kannte und an die er nicht glaubte. Im Bluten geboren und gestorben am Schrei. Nicht so, wie es geschieht, wenn ein Körper einen anderen Körper umbringt, also von außen nach innen durchbohrt. Yusuf starb durchdrungen und aufgespießt von innen nach außen, eben von dem Körper, über den er sich – wie eine weiße, blutbespritzte Tunika – gehüllt hatte.
Die neuen Kleider abgelegt – Yusuf war wie ein unbrauchbares Gewand vor seinen Füßen in den Staub hinabgesunken –, kehrte Sahag zu den Zelten zurück. Nunmehr kein Stammessohn mehr, kam er heimlich, verbarg sich im Dunkeln, umschlich die Feuerstellen und die Zeltöffnungen. Er ging zur Koppel und führte leise sein Pferd am Halfter hinaus. Ihr Ritt durch den Sand war still, das Pferd war ihm gefolgt, ohne irgendeine Veränderung wahrgenommen zu haben, es hörte auf ihn, hatte ihn gerochen, Yusuf hatte es für das Pferd ohnehin niemals gegeben. Dann war sein Galoppieren zu hören, aber da waren Pferd und Reiter schon weit weg.
Er hatte den Weg nach Westen eingeschlagen, eine Strecke, die den Konvois entgegenlief; aber leider bedeutet die Rückkehr durch die Kreise des Todes, vom Ostern der Toten zum Ostern der Auferstehung, nicht auch eine Rückkehr in der Zeit. Im Gegenteil, während er eine um die andere Treppenstufe aus der Tiefe, in die er wie in einen Brunnenschacht gefallen war, wieder erklomm, fand er nichts als die Spuren der Konvois vor, Bettler, die an den Wegrändern bettelten, immer wieder neue beängstigende Namen der Schluchten, in deren Geröll die Gebeine zermahlen wurden, Kinder seines Volkes, in Schalwars gekleidet und als Yusufe aufwachsend – wie in Nestern waren diese Yusufe in ihren Brustkörben eingeschlossen. Oftmals war ihm danach, zurückzukehren ins Zelt, jenen Araber vor den Augen seiner Kinder und Frauen umzubringen und den Talisman seiner Mutter an sich zu nehmen. Dann aber sagte er sich, den Araber treffe überhaupt keine Schuld, derjenige, der seiner Mutter den Talisman vom Hals gerissen hatte, halte sich anderswo auf, und er müsste einen viel zu großen Krieg führen, um seiner habhaft zu werden, alle seinesgleichen umzubringen, um die Gewissheit zu haben, dass die Mörder seiner Mutter ihre Strafe erhalten haben. Der Araber hatte sich schließlich als sein Wohltäter erwiesen, und es war nicht dessen Schuld, wenn die Zeitläufte ein Menschenwesen so geringschätzten, dass der Beduine das Leben des Jungen auf ein Mehlsäckchen veranschlagt hatte.
Solange er auf der Flucht war, haben ihn die Erinnerungen verschont. Als er sich schließlich in Silistra niederließ, ging er zu einem Kaufmann in die Lehre und machte anschließend sein eigenes Geschäft auf. Und als er dann noch etwas später sich eine Frau zu suchen begann und bis er sie gefunden hatte abends lange im Hafen bei den Mädchen blieb, die auf Seeleute warteten, erhob und beseelte sich der einstmals abgeworfene Beduinenumhang, zischelte wie eine Schlange und folgte Sahags Spuren. So kam es, dass er eines Abends Yusufs Antlitz zwischen den Lichtern der Öllampen im Fenster gespiegelt sah. Es graute ihm, als er sah, wie er zum Klang der Trommeln und Zummaren herumhüpfte, wie das weiße Gewand des Wüstenmannes zerriss, wie er sein Glied in der Hand hielt und es tänzelnd rieb, wilden Blickes,
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