Buch des Flüsterns
verdorben. Vielleicht werden sie die Welt neu beginnen und einen anderen Gott erschaffen.
Sahag schaute ins Dunkel hinaus, wo die aneinandergeschmiegten Leiber des Mannes und der Frau noch einmal vor seinem inneren Auge erstrahlten und verloschen. Und plötzlich strich ein frischer und raschelnder Hauch über seine Stirne. Als hätten sich auf dem Weg der beiden die Sandmassen geteilt und aus dem Erdreich allerlei schön anzuschauende Bäume sprießen lassen. Die zwei Arme eines sehr viel breiteren Flusses vereinten sich vor ihnen: Es waren dies der Euphrat und der Tigris. Und der Mann betrat den von diesen Wassern gespeisten Garten, ließ sein Geschlecht zurück, Vater und Mutter, und umfasste seine Frau. Und sie wurden ein Leib.
Hier aber, unter den Menschen, kamen stets, wenn ein paar hundert Leute in Konvois den Weg Richtung Suvar oder Damaskus eingeschlagen hatten und auf die zu Hinrichtungsstätten verwandelten Plateaus geführt worden waren, vom Westen her andere Konvois an und stiegen herab in den letzten Kreis des Todes. In jenem Juli des Jahres 1916 wurden Massen von Leuten aus dem Lager geschafft, andere Massen gesellten sich hinzu, und trotz dieses ständigen Kommens und Gehens blieb sich das Lager von Deir-ez-Zor gleich, als bewegte sich überhaupt nichts. Ringsum war die Gegend voller Gebeine. Die letzte Grenze war überschritten. Die Lebenden boten sich den Toten an und machten deren Beerdigung zur einzigen Beschäftigung, die sie noch hatten. Die Toten boten sich den Lebenden an und wärmten sie wie Kleidungsstücke in den froststarren Nächten, auch dienten sie jenen, die vor Hunger den Verstand verloren hatten, zur Kommunion.
Hermine schaute mit verlorenem Blick ihr Kind an. Die Sommerhitze trieb die letzten Wassertropfen, die noch die Salze im Körper gebunden hatten, heraus und brachte die Menschen um, trocknete sie aus. Die Lebenden und die Toten, die sich in ihrer Reglosigkeit ebenso wie durch gelegentliche Zuckungen einander angeglichen hatten, glichen sich nun auch aufgrund der dunklen trockenen Färbung ihrer Gesichter.
Dem Rhythmus nach, in dem die Exekutionen aufeinanderfolgten, sollte sich das Konzentrationslager im Herbst des gleichen Jahres auflösen. Auch ohne die Exekutionen hätte niemand unter den Bedingungen, die in Deir-ez-Zor herrschten, bis zum Winter überlebt. In diesem Sommer starben vor allem die Kinder. Viele verblieben unbestattet zwischen den Zelten wie leere Karkassen, zusammengekauert und schwarz verfärbt. Ungeduldig erwartete Hermine, in einen Konvoi aufgenommen zu werden, sie wusste nicht, was sie sich erhoffte, aber sie wünschte sich aus ganzer Seele, wegzukommen von diesem Ort. Mit offenen unbewegten Augen flüsterte das Kind ab und zu: Ich habe Hunger! Wenn sein Jammern vor Erschöpfung zu einem gleichmäßigen und beim Einatmen rasselnden Wimmern geworden war, brach Hermine auf und ging zwischen den Zelten hindurch. Nach einer Stunde kehrte sie mit leeren Händen zurück. Sie haben dir nichts gegeben, nicht wahr?, fragte das Mädchen mit verlöschender Stimme. Sie nickte leeren Blicks. Auch du darfst ihnen später einmal nichts von mir geben ..., lächelte das Kind traurig. Hermine schlug sich derart verstört auf den Mund, dass sie vergaß, ihren Jungen zu verscheuchen, wenn dieser sich näherte, um sie zu liebkosen. Sie schaute ihn ganz ungewohnt an und fasste ihn an den Handgelenken. Komm her!, sagte sie mit einer neuen Stimme. Sie zerrte ihn aus dem Zelt, zum Rand hin, den Fluss hoch, wo die Araber ihre Tiere zur Tränke trieben. Sie blieb bei ihrem Sohn am Ufer des Flusses stehen und betete, es möge schnell gehen.
Der Araber, der auf sie zukam, schaute sie neugierig, aber ohne jedes Mitgefühl an, vor allem den Jungen. Da Hermine und der Junge türkisch sprachen, hätte er ihre Worte als die gemeinsame Sprache verstehen können, die Mohammed auf den Feldern seines Glaubens hinterlassen hatte. Aber dessen bedurfte es nicht, denn sie wussten, worum es ging. Dies hatte sich schon Tausende Male auf den Wegen der Konvois oder am Rande eines Lagers abgespielt. Und damit die Dinge klar seien, ließ Hermine Sahags Hand los und schubste ihn einen Schritt weit voran, aber sie behielt die eine Hand auf seiner Schulter, damit der Junge nicht zurückrennen konnte. Trotz seiner Schwäche schien Sahag von keiner Krankheit befallen zu sein, und der Araber holte statt seiner Einwilligung ein Säckchen Mehl hervor und hielt es Hermine hin. Sie packte es mit beiden
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