Buch des Flüsterns
niemandem sonst begegnet, der den Namen dieser Familie aus Agn getragen hätte. Und das war nicht irgendeine Familie. Vor allen anderen armenischen Familien hatte diese zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts die höchsten Ämter des Reiches inne. Fürsorglich von seinen beiden Onkeln Gabriel und Asadur angeleitet, war Micael Noradunghian nach Konstantinopel gegangen, wo er erfolgreich eine Kaufmannsfirma eröffnet hatte. Und weil viele seiner Kunden Armenier aus den östlichen Wilajeten waren, eröffnete er im Galata-Viertel in Konstantinopel auch eine Herberge, die ein lebhaftes Treiben auslöste, etwa so, wie es ein Jahrhundert zuvor in Bukarest die Herberge eines anderen Armeniers, Manuc Bey Mirzaian, getan hatte. In jener Herberge in Galata stieg auch mein Ururgroßvater Haciadur Melichian ab, wenn er vorbeikam, um sich am Ufer des Bosporus zu vergnügen und durch die Straßen mit vielen bunt durcheinandergewürfelten Leuten geritten war. Als sein Onkel Gabriel Noradunghian, Professor an der rechtswissenschaftlichen Schule von Konstantinopel und während der Revolution von 1908 den Jungtürken nahestehend, kurz vor den Balkankriegen sogar zum Außenminister der Hohen Pforte ernannt wurde, ist sein Neffe Micael Staatssekretär im Kommunikationsministerium geworden, also eine Art Vizeminister, zuständig für die Post und das Telegrafenwesen. In diesem Amt muss er damals ein Mitarbeiter von Talaat Pascha gewesen sein, der seinerseits ein ehemaliger Telegrafist war und wie besessen an der Ausbreitung des Telegrafen über das gesamte Reichsgebiet gearbeitet hatte, der gleiche Talaat, der, zur zentralen Figur der Verwaltung geworden, im Jahre 1914 die Amtsenthebung und Entfernung aller hohen armenischen Würdenträger und im Jahr darauf ihre Deportation – an der Seite des gesamten armenischen Volkes – angeordnet hat.
Weil jedoch Micael Noradunghian nichts über sich selbst erzählte, wissen wir nichts über diese Beziehung zu Talaat Pascha, wir können sie nur vermuten. Es scheint sie aber tatsächlich gegeben zu haben, sonst hätte Micael Noradunghian nicht als einer der Ersten gespürt, was geschehen würde, und sich in Sicherheit bringen können. Gabriel Noradunghian legte sein Amt als Außenminister im Jahre 1913 nieder, ebenso verfuhr sein Neffe Micael beim Post- und Telegrafendepartement, und zu Beginn des Jahres 1915 gingen sie nach Paris, wo sie sich um das Schicksal der armenischen Emigranten kümmerten und der alte Minister seine Memoiren zu schreiben begann. Sein Neffe Micael hatte, eingeführt von seinem anderen Onkel, Asadur, die Treppenstufen der Freimaurerei erklommen und schon 1909 den 33. Grad erreicht. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern des Obersten Konsiliums der Türkei, dessen Konvent zur Gründung der Großen Türkischen Loge er in seiner Herberge in Galata hatte tagen lassen.
Micael Noradunghian kam im Herbst 1920 nach Rumänien. Die Begegnung fand im Haus von Armenag Manisalian statt. Sie hatten auch Harutiun Khântirian, den Konsul der Republik Armenien, hinzugebeten, Krikor Zambaccian und Grigore Trancu-Iași. Großvater gab seine Zurückhaltung zu erkennen. Er glaubte nicht an Geheimgesellschaften. Wenn die Menschen etwas nicht verstehen und sich scheuen, dies zuzugeben, erfinden sie Geheimnisse. Was wäre denn aus dem Christentum geworden, wenn es geheim geblieben wäre, fragte Großvater. Aber Sahag Șeitanian, angetrieben vom stechenden Schmerz seiner Eingeweide, empfahl ihm, hinzugehen. Alles, was keine Rücksicht auf Grenzen nimmt, ist gut für uns, solange Groß-Armenien nicht wiedererrichtet worden ist. Schau dir doch den Bolschewismus und die pantürkische Bewegung an, wie sie sich ausbreiten und gegen die Grenzen anrennen. Die Ideen, mit denen man in den Kampf zieht, müssen das gleiche Format haben; und die Freimaurer ignorieren die Grenzen. Dies aber wird erst um einiges später geschehen, in einem Augenblick, da Micael Noradunghian, alt und resigniert, einiges neu erwägen musste; sein Leben zuvor hatte er im engen und verschatteten Kreis der Freimaurerei zugebracht, nun aber sah er sich genötigt, ins Licht zu treten. Damals jedoch, im Herbst 1920, enthüllte Micael Noradunghian den anderen nur, dass er in Rumänien einen speziellen Auftrag zu erfüllen habe, weshalb man ihm eine Unterredung mit König Ferdinand ermöglichen solle.
Damals wartete Noradunghian nicht mit verschränkten Armen ab. Zu jener Zeit legten die Menschen keinen großen Wert darauf, ihre Berufe
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