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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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glühenden Sonne, die ihnen die Augäpfel verbrannte, erblindeten. Und die Toten zuckten manchmal aufgrund des gewaltigen Temperaturunterschieds zwischen Tag und Nacht, ihre Gelenke weichten in der Hitze auf oder zogen sich im Nachtfrost zusammen. Sodass sie sie aufs Geratewohl wegschafften; und manch einer, wenn er zu den anderen auf den Haufen geworfen wurde, erwachte und kehrte vom Rand der Grube zurück.
    Als das Zeichen gegeben wurde, begannen sich die Konvois wieder zu formieren. Ein Teil wurde nach Osten geleitet, auf Marat und Suvar zu. Die anderen zogen gegen Westen und schlugen den Weg nach Damaskus ein. In beiden Richtungen wartete die gleiche Lösung. Wenn sie ein Plateau erreicht hatten, das die Vorhut für passend hielt, entfernten sich die Soldaten, umzingelten den Konvoi und schossen mit ihren Gewehren von allen Seiten. Wenn niemand mehr auf den Beinen war, pflanzten sie die Bajonette auf, zogen ihre Krummschwerter und gingen zwischen den Leibern hindurch, dabei metzelten sie alle nieder, die nicht von den Kugeln getroffen worden waren. Die Konvois bestanden aus dreihundert bis fünfhundert Personen. Ihr Schicksal war stets das gleiche, manchmal aber überließen die Soldaten die Arbeit den Beduinen und begnügten sich am Ende mit der Inspektion, um sich zu vergewissern, dass die Sache ordentlich erledigt worden war.
    Hermine, die Tochter in den Armen, erwartete den Tod. Das Mädchen wurde nun immer häufiger von Schüttelfrost gepeinigt, und Hermine legte sich nachts über das Kind, um es zu wärmen. Sahag war es gelungen, eine Handvoll grüner Dattelpflaumen zu beschaffen, einmal sogar einen Granatapfel, der vom Sattel eines Soldaten herabgefallen war. Sie aßen die süßsauren Kerne einzeln, behielten sie lange unter der Zunge. Die Liebenden im Nachbarzelt hungerten schrecklich, ohne sich irgendetwas zu essen suchen zu können, denn um nichts in der Welt erlaubte die Frau ihrem Mann, das Zelt zu verlassen, sie fürchtete, die Soldaten könnten ihn sehen und erschießen. Sie schienen sich voneinander zu ernähren, und solcherart aneinandergekettet, hatten sie widerstanden. Bis eines Abends, als sie mit dem Einbruch der Kälte sich aus den Armen des jeweils anderen lösten und sich erhoben. Sie legten ihre Kleider ab, und die Frau reichte sie Hermine. Zieh sie dem Kind an, es zittert vor Kälte. Sie waren völlig nackt. Hermine betrachtete sie mit sprachloser Verwunderung, nicht ihre Nacktheit, die, wie alles andere, was einem Körper im Lager geschehen konnte, nicht ungewöhnlich war. Aber sie waren unsagbar schön. Sie hatten ein seltsames Leuchten in den Augen, ihre Haare waren glattgestrichen und glänzten um ihre Stirnen, ihre Leiber waren von einem herzzerreißenden Weiß, ihre Hüften bogen sich und die Brüste hatten sich gerundet, während seine Muskeln sich rund um die Knochen spannten. In großen Tropfen ergoss sich das Licht über ihre Schultern, und um sie herum entstand kein Schatten. Wir sind uns verabschieden gekommen, sagte er, aber seine Lippen schienen sich nicht zu bewegen. Dann fasste er seine Frau an der Hand, und sie gingen; ihre Gestalten standen ihnen noch lange vor Augen, vielleicht dank der leuchtenden Umrisse, die ihre Leiber bekommen hatten. Sie waren so strahlend hell und so unbekümmert, schwebten beinahe über dem Sand. Hermine und Sahag warteten mit gespitzten Ohren auf die Schüsse. Aber es geschah nichts, auch als sich das Dunkel geschlossen und den Löss und das Wachs ihrer Leiber verhüllt hatte. Nur ein rätselhafter und rauchiger Duft war zurückgeblieben, als hätte jemand Myrrhe und Ambra verbrannt. Sie haben es geschafft, flüsterte Hermine. Ich gehe und hole sie zurück, sagte Sahag. Dort ist die Wüste, sie werden umkommen. Es ist noch niemand aus dem Sand zurückgekehrt. Hermine winkte ihn herbei, damit er sich zu ihr setze. Lass sie ... Sie sind schön und ohne Sünde. Ich denke immerzu, dass Rupen recht hat. Sie sprach von ihrem Mann in der Gegenwart, wie von jemandem, der weit weg gegangen ist und zurückkehren wird, obwohl er zu der Zeit längst mit den anderen Männern des Konvois aus Sebka ermordet worden war. Rupen hat recht. Gott ist tot. Lass sie vorangehen. Hier, wo du sie zum letzten Mal gesehen hast, am Rande des Lagers von Deir-ez-Zor, ist die Grenze zum Garten Eden. Nur zwei Schritte weiter ist die Himmelspforte. Wir sind dahin zurückgekehrt, wo wir am Anfang aller Zeiten aufgebrochen waren. Aber in der Zwischenzeit ist die Welt ganz und gar

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