Buch des Flüsterns
emigriert, hatten Wüsten durchquert, Kontinente, Meere und Ozeane, aber sie waren niemals wirklich gereist. Ihr Gang durch die Welt war Teil ihrer Traurigkeiten, nicht ihrer Neugierde oder Freuden. Deshalb reisten sie auf papierenen Weiten, wie Bücherwürmer.
Die kartografierten Bogen waren wie ein Schnitt in die wirkliche Welt, sie eröffneten eine neue Dimension. Auf diesen Karten nahmen die Kriege stets einen anderen Ausgang als in der Wirklichkeit, die Fedajin aus den Bergen vernichteten die Armeen, den Gefangenen gelang die Flucht aus den Deportationslagern und den Kriegern aus der Umzingelung. Auf dem Balkan landeten die Amerikaner, englische Fallschirmjäger bevölkerten den Himmel, und die Russen zogen sich zurück ins hinterste Sibirien. Und selbstverständlich erstreckte Armenien sich vom Kaukasus bis nach Tyr und Sidon, von Anatolien bis zum Urmia-See, wie zu den Zeiten von Tigranes dem Großen im letzten Jahrhundert vor Christus. Die Welt bestand aus einer Überlagerung von Karten, die Unzahl von Pfeilen darauf wies auf Landgänge, Befreiungen, Vertreibungen, Rückübertragungen, Elan und Triumph. Am wenigsten Bedeutung und damit auch geringste Beachtung kam der untersten aller Karten zu, sie war direkt aufs Gras skizziert worden, nämlich die Wirklichkeit selbst.
Auf seinen Karten galten deshalb andere Verträge, und die Kriege waren anders ausgegangen. Der Vertrag von Sèvres hatte Gültigkeit und war in Kraft. Das Treffen in Jalta hatte nicht stattgefunden, und der vorsätzlich stumpfe Bleistift Stalins hatte nicht Europa zerteilt. Sahag Șeitanian und die anderen Armenier meiner Kindheit waren eher Menschen der Karten, nicht der Erde. Manchmal waren sie derart unbekümmert, war ihr Blick dermaßen in die Ferne gerichtet, dass man den Eindruck haben konnte, sie hätten sich mit den Karten eingerollt und seien von dieser Welt verschwunden.
Im
Buch des Flüsterns
hat jedes Aroma, jede Farbe, jedes Aufblitzen von Verrücktheit seinen eigenen Magier. Wegweiser durch die verschiedensten Gefilde, Magier der Karten, war Micael Noradunghian. Die anderen saßen um ihn herum und schauten mit weit aufgerissenen Augen zu, wie sich unter seinen Händen die Kontinente ausbreiteten. Weise und schweigsam saß mein Großvater da, wie die Karten bewies auch seine Haltung, dass es jenseits des heillosen Durcheinanders der Zeitläufte einen bestimmten Sinn geben musste. Anton Merzian vergaß, seine Fragen zu stellen, und im Angesicht der Karten, wo alle ihren Platz fanden, musste er auch mit Krikor Minasian nicht mehr streiten. Ștefănucă Ibrăileanu, Măgârdici Ceslov, Agop Aslanian, Vrej Papazian, Ohanes Krikorian und alle anderen traten scheu heran und ließen sich auf dieses neue Bethlehem geleiten, wo sich die Erlösung in Gestalt einer Karte präsentierte. Von diesem Wunderding verzückt, strahlten Sahag Șeitanians Augen. Es waren die einzigen Augenblicke, da er sich innerlich entspannt mit Yusuf versöhnte.
NEUN
D IE GESCHICHTE DES MICAEL NORADUNGHIAN, MAGIER DER KARTEN . Noradunghian war eine Art Magier der rechteckigen Welten. Sein Leben hatte sich aus Bruchstücken zusammengefügt, es war nicht in einem Kontinuum gelebt worden, eher wie die Lebenslinie in einer verschrumpelten Handfläche. Deshalb konnte sich niemand so an ihn erinnern, wie man sich gemeinhin an jemanden erinnert, also wo jemand geboren wurde, was man im Leben getan hatte, mit wem man befreundet und mit wem verfeindet war, wie man gestorben ist – dies Letztere vor allem, um zu verstehen, was von dem Vorausgegangenen ungeklärt geblieben ist. Um Micael Noradunghians Leben zu erzählen, wäre ein Schneideraum nötig gewesen, in dem man die einzelnen disparaten Sequenzen hätte aneinanderkleben können. Der größte Teil seines Lebens hatte sich eigentlich zwischen diesen erzählten Sequenzen zugetragen. Noradunghian hat sich immerzu außerhalb seines eigenen Lebens situiert, und wir spüren seine Anwesenheit, indem wir nach ihm die Räume betreten, die er soeben verlassen hat.
Micael Noradunghian ist im gleichen Jahr geboren, in dem ein weiterer Held unserer Geschichten geboren wurde: Hartin Fringhian. Und, wie wir sehen werden, sollten ihre Lebensläufe, die sich lediglich stellenweise ähnelten, noch eine weitere gemeinsame Verzweigung erfahren, fünfundsiebzig Jahre später, im Jahre 1948.
Noradunghian entstammte einer Familie mit einem selbst unter Armeniern eher seltenen Namen. Unter den Personen im
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