Buch des Flüsterns
und erkannte ihn. Er wurde am letzten Wintertag des Jahres 1951 beerdigt. Seinen Sarg hatten nur ein paar Mitglieder des Obersten Konsiliums vom 33. und Letzten Grad begleitet, das er vor etwa drei Jahrzehnten wiederbelebt hatte. Bischof Vazken Balgian sah ihren Wunsch nicht mit Wohlgefallen. Aber er musste ihm zustimmen, zumal er selbst von den Behörden akzeptiert worden war, die sich durch diese Gunst am toten Noradunghian für die Feindschaft des lebenden Noradunghian rächen wollten. Dafür, dass er die Freimaurerei in dem Augenblick hatte einschlafen lassen, als die Kommunisten drauf und dran waren, sie in ihre Hände zu kriegen, musste er bestraft werden. Wie kann man einen Toten anders bestrafen, als indem man das gute Gedächtnis an ihn auf eine harte Probe stellt? Und wie konnten sich die kommunistischen Machthaber anders an einem Feind rächen, als dadurch, dass sie ihm ihre Gunst erwiesen und damit suggerierten, dass das, was wie Widersetzlichkeit ausgesehen hatte, nichts anderes als Unterwerfung gewesen sei, und das kommunistische Regime nun seine Trauer um einen Freund bekunde. Die wenigen aber, die wussten, dass Noradunghian die Freimaurerei nicht hatte einschlafen lassen, um sie zu vernichten, sondern um sie vor Demütigungen zu bewahren, kamen in der Hoffnung auf bessere Zeiten zu seiner Beerdigung und ehrten ihn. Und Bischof Vazken akzeptierte, wie schon gesagt, dass freimaurerische Symbole auf seinen Grabstein eingemeißelt wurden und darunter der Schriftzug erschien: »Großmächtiger Souverän und Großkommandeur des Hohen Konsiliums vom 33. und Letzten Grad von Rumänien«, und weiters: »27. Nachfahre der Pacraduni-Dynastie«, was bedeutete, dass dieser Armenier aus Agn, in Galata Kaufmann geworden, dann Minister in Konstantinopel, aus dem Schatten heraus Herr über die rumänische Freimaurerei, Waffenhändler und Verkäufer von Illusionen, der Nachkomme des letzten großen Königs von armenischem Geschlecht eines der großen und kleinen Armenien war, die sich zwischen der Mittelmeerbeuge und dem Dreieck der Seen Van, Sevan und Urmia gegründet, geblüht hatten und untergegangen waren.
Damals war Sahag Șeitanian längst ein erwachsener Mann. Er brachte auf den Rat meines Großvaters Garabet die Karten in die Kanzlei der Parochie und legte sie dort an eine Stelle, wo sie niemand suchen würde, aber allerlei gefunden werden konnte, und zwar in die Truhe mit den Kirchengewändern. Manchmal, wenn der Glöckner Arșag draußen saß und aufpasste, gingen sie hin und sannen über den Karten nach, träumten von der Auferstehung der Grenzen. Arșag hatte deshalb die Karten nie gesehen, aber weil er gewohnt war, den Vogelflug zu betrachten, suchte er die Grenzen dort, wo es sie nur als bewegliche gibt, mithin unbedeutend. Der blinde Minas ließ die Finger über die Karten gleiten, sein Zeigefinger folgte dem Grenzverlauf bis nach Osten, wo auch der Weg der Karawanen endete. Ich kann überall etwas sehen, immerhin einen Lichtstreif. Nur hier, an dieser Stelle ist es dunkel. Holt eine Kerze und stellt sie da hin. Anton Merzian fragte, ob es nicht besser wäre, die Karten in Seferians Gruft zu bringen, damit jede Gefahr vermieden würde. Krikor Minasian, der keine Gelegenheit verstreichen ließ, über seinen im Frageton vorgebrachten Unsinn zu lachen, befand, wenn man dem ängstlichen Anton Merzian folgte, müsste man die Karten nicht in der Gruft verstecken, sondern gleich richtig vergraben. Die anderen hatten dazu keine Meinung, in einer Sache aber stimmten sie alle überein: Die Amerikaner mit MacArthur an der Spitze sollten ihre Zeit nicht in Korea vertun, sondern sich so schnell wie möglich dem Balkan zuwenden. Sahag Șeitanian, der über den Schlüssel der Kanzlei verfügte und deshalb hin und wieder die Truhe öffnen und die Karten betrachten konnte, zündete auf dem Boden in der Ostecke eine Kerze auf einer Kaffee-Untertasse an, also kam auch der blinde Minas herbei, der unter allen leuchtenden Gegenständen die Kerzen am besten erkennen konnte. Beide schauten sie mit großen dunklen Augen, denn jeder sah nach seinem eigenen Gesetz und auf eine Weise, die er dem anderen nicht mitteilen konnte. In der Gruft kann man sich keine Karten anschauen, sagte Großvater Garabet, sie ist dafür nicht groß genug. Entrollt man die Karten nach so elend langer Zeit, die sie zusammengerollt zugebracht haben, dann verspüren sie das Bedürfnis, mal durchzuatmen, außerdem kann man Karten nicht anschauen, wenn
Weitere Kostenlose Bücher