Buch des Flüsterns
waren, sowie einem bolschewistischen Russen, der wegen Spionage festgenommen worden war. Sie pflegten ihn, gaben ihm Wasser, setzten ihn auf die einzige Matratze der Zelle und meldeten sich in seinem Namen, wenn sie aufgerufen wurden. Und einer der Wärter, namens Parsegh, erwies sich als Armenier. Er brachte ihm neue Kleider und teilte denen draußen mit, dass Misak Torlakian lebte.
Was nach einer Woche auch öffentlich mitgeteilt wurde, als Misak Torlakian infolge einiger oberflächlicher Verhöre und einer Gegenüberstellung mit dem Bruder des Opfers mitgeteilt wurde, dass der Prozess eröffnet würde und er einen Rechtsanwalt benötige. Den die armenische Gemeinschaft auch sogleich in der Person des Hmaiag Khosrovian gefunden hatte.
Die Zeitzeugen sagen, Misak Torlakian sei während des Prozesses apathisch gewesen. Er habe reglos dagesessen und den Eindruck erweckt, als hörte er den Zeugenaussagen nicht zu, und wenn er gefragt wurde, habe er einsilbig geantwortet. Nicht einmal als die Zeugen der Verteidigung die Umstände schilderten, unter denen die Massaker in Trapezunt 1895 und 1915 geschehen waren oder die in Baku, die Bahbud Khan Djivanșir angefangen hatte, habe er reagiert.
Der Rechtsanwalt Hmaiag Khosrovian hatte kurz davor in Berlin am Prozess gegen Solomon Tehlirian teilgenommen. Durch den Einsatz einer großen Zahl von Zeugen, die aus allen Ecken und Enden der Welt gekommen waren und das Gericht beeindrucken konnten, hatte die Verteidigung nicht für die Unschuld des Angeklagten plädiert, sondern auf Freispruch; sie führte seinen psychischen Zustand und seine verminderte Urteilsfähigkeit im Augenblick des Attentats ins Feld. Solomon Tehlirian wurde als Epileptiker anerkannt, dessen Psyche aufgrund der Traumata, die er während der Deportationen erlitten hatte, zerrüttet war. Obwohl der Mord offensichtlich war, übrigens hat Solomon Tehlirian ihn auch nicht bestritten, entschied sich das Gericht schließlich, ihn freizulassen.
Die gleiche Strategie wandte Hmaiag Khosrovian auch im Prozess in Konstantinopel an. Während Solomon Tehlirian tatsächlich psychisch zerrüttet war, wenn auch nicht in dem Ausmaß, dass er nicht gewusst hätte, was er tat, sondern zerrüttet allein davon, Talaat Pascha nicht schneller gefunden und umgebracht zu haben, konnte man Misak Torlakian, ein Kind vom Lande mit einer robusten Konstitution und ausgestattet mit einiger Erfahrung, wie man sich in Grenzsituationen verhält, nicht so leicht in einen Epileptiker oder Schizophrenen verwandeln. Hmaiag Khosrovian übte mit Misak Torlakian die Simulation einer psychischen Erkrankung und beschloss angesichts von dessen offenkundig fehlender Begabung dazu, dass ein wacher Misak Torlakian es niemals schaffen werde, irgendjemanden davon zu überzeugen, dass er nicht bei Sinnen sei. Deshalb entschied Khosrovian, dass Torlakian nicht im Wachzustand krank sei, sondern im Schlaf.
Der Anwalt hatte verstanden, dass angesichts der erdrückenden Beweise für den Mord Torlakians an Bahbud Khan Djivanșir, selbst angesichts der mildernden Umstände, die durch die erdrückenden Zeugenaussagen über die Deportationen und Massaker an den Armeniern zu berücksichtigen gewesen wären, und bei einem Gericht, das von den Wachen bis zu den Richtern aus Engländern bestand, Misak Torlakian keine Chance gehabt hätte, einer Verurteilung wegen vorsätzlichen Mordes zu entgehen. Und dies führte zur einzig möglichen Strafe, dem Tod durch den Strang. Damit war klar, dass man sich etwas einfallen lassen musste, sonst wäre Misak Torlakian vor den ausländischen Journalisten, die den Prozess beobachteten, vor den Zeugen und der gesamten Welt ein einfallsloser Rächer geblieben, ein Richter ohne Grund, ein sich wehrender und dann am Strick baumelnder Leib mit einem kleinen Bruch zwischen dem Atlas- und dem Axiswirbel. Unter allen Hinrichtungsarten war das Gehenktwerden diejenige mit den geringsten Aussichten, Helden zu schaffen.
Also beschloss Hmaiag Khosrovian, bevor er sich in den Kampf mit den Staatsanwälten begab, gegen das Schweigen von Misak Torlakian anzutreten. Er hatte lange und ausführliche Begegnungen mit dem Angeklagten, schaute ihm beim Schweigen zu, den Blick verloren, sah, wie er sich die von den Fesseln befreiten Handgelenke rieb, unterbrach ihn nicht, wenn er immerzu vor ihm auf und ab quer durch den Raum ging. Zuerst erzählte er ihm von sich selbst, von seinen ermordeten Verwandten, von Solomon Tehlirian und der Art und Weise,
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