Buch des Flüsterns
man sich wie ein Krüppel über sie beugt und auf sie starrt, sondern nur wenn man aufrecht steht. Die geduckte Haltung verträgt sich nicht mit der Großartigkeit der Karten. So verblieben die Karten in der Truhe der Kanzlei, und sie kamen hin und wieder vor den hohen Feiertagen und betrachteten sie. Mit der Zeit vergilbten die Karten an den Rändern und rochen nach alten Kirchengewändern, sie holten sie wie ein Tabernakel heraus und schwiegen. Der Kreis, der sich um die Karten versammelte, schrumpfte, bis von den Armeniern meiner Kindheit nur noch Sahag Șeitanian übrig war – und an seiner Seite, anstelle des blinden Minas, Yusuf, der viel schneller gealtert war; nunmehr war er ein fleischloses Knochengestell, seine Gelenke schlotterten, und er war ebenso blind wie Minas, sodass Sahag, der sich schon so lange an ihn gewöhnt hatte, ihn führte und ihm hin und wieder den Weg zu sich selbst wies, damit Yusuf wieder in seinen Leib zurückfand und sich ausruhen konnte.
Eines Nachts geschah etwas, das sich so noch nie zugetragen hatte. Sahag Șeitanian träumte von Yusuf. Im Traum schlief Yusuf auf seiner Unterlage aus getrockneten und duftenden Gräsern in seinem weißen Zelt in der Wüste. Sich im Schlaf umwälzend, träumte Yusuf seinerseits vom schlafenden Sahag, ebenfalls in einem Zelt, in seinem Zelt aus geflicktem Bettzeug in Deir-ez-Zor, aber es war ein älterer Sahag, der eine weiße, blutbefleckte Tunika trug. Sahag rief im Schlaf Yusufs Namen, rief sein Blut beim Namen und träumte seinerseits den schlafenden Yusuf. Auf diese Weise, indem der eine sich in den Schlaf des anderen vertiefte, begegneten sich Sahag und Yusuf zum ersten Mal im Traum. Damit wusste Sahag, dass Yusuf, zum ersten Mal mit ihm selbst identisch, gestorben war. Es war ein Zeichen. Kurz darauf starb auch er. Außer uns Enkeln gab es nicht mehr viele, die ihn auf den Friedhof hätten begleiten können. Wir fanden die Karten nicht mehr in der Truhe, als wir die Kirchengewänder nach Bukarest ins Armenische Museum brachten. Es hatte sie so lange gegeben, wie sie sich von dieser Welt unterschieden. Während die Kontinente neu verteilt und umgestaltet wurden, waren ganze Flecken auf den Karten weiß geworden und schlicht und einfach verschwunden. Europa hatte sich Stück für Stück zu vereinigen begonnen. Amerika vereinte sich mit Europa zu einer beschützenden Hülle. Die Berliner Mauer fiel, Armenien befreite sich, obwohl es von den drei Seen lediglich den Sevansee behielt und am Fuße des Ararat endete. Der blinde Minas war schon lange gestorben, wie in ein Leichentuch in Kevork Ceauș’ Vision eingehüllt und von seinen Töchtern Luiza und Armaveni beweint, und die Karten hatten allmählich das Weiß seiner Augäpfel angenommen. Während die Welt gesundete, erkrankten die Karten am grauen Star. Wie andere Visionäre vor ihnen hatten Micael Noradunghian, Levon Zohrab, Sahag Șeitanian und andere ihresgleichen sich die Wirklichkeit vor der Wirklichkeit vorgestellt, was immerhin bewirkte, dass sie sich auf dieser Welt sicherer fühlten.
Ich weiß nicht, an welcher Krankheit Sahag Șeitanian gestorben ist. Die einen sagen, er sei am Alter gestorben, aber für die Armenier meiner Kindheit war das Alter keine Krankheit. Der Tod hatte ihn unter die Arkaden gebeten und im Schaufenster sich die Todesart und den Augenblick, da es zu geschehen habe, auswählen lassen. Er wählte den Moment, in dem die Karten ausblichen und es nichts mehr gab, was ihn zu wissen bedrängte. Die Apokalypse der Karten war seine Offenbarung, der Tag, an dem die Karten auf die Erde herabsteigen.
ZEHN
M isak Torlakian, aus dem Gemenge gezerrt, war am ganzen Leib von Schlägen malträtiert, er blutete, und seine Kleider waren zu Lumpen zerrissen. Er wurde zu einem düsteren Raum geführt und hineingestoßen. Er krümmte sich auf dem kalten Boden. Schloss die Augen und verharrte die ganze Nacht über auf dem Boden. Der weiße Hengst kehrte zurück und weidete nun ruhig auf dem Feld. Er war gesattelt, aber der Reiter war verschwunden. Misak näherte sich ihm, das Pferd beschnupperte ihn, erhob sich aber nicht mehr auf die Hinterbeine, wieherte kurz und wandte sich ab.
Am Morgen wurde er einigen Soldaten anvertraut, die ihn unter strengster Bewachung über Seitengassen in ein anderes Gefängnis brachten. Die Zelle unterschied sich nicht von der, in der er gelegen hatte, aber er teilte sie mit einem jungen Mazedonier und einem Araber, die wegen Mordes verhaftet worden
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