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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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vergessen oder diese sich verändert hatten, näherten sich die Frauen sehr umsichtig. Manche Mütter, die wussten, dass sie ihre Kinder nie mehr finden würden, begannen leise zu weinen, andere seufzten, als sie sich der letzten Reihe näherten und ihre Hoffnung schwinden sahen. Einige der Frauen waren einfach so gekommen, sie hatten gespürt, dass es den Kindern guttun würde, wenn sie sahen, dass sie jemand empfängt, und hatten kleine Päckchen mit Essen und Bonbons vorbereitet, die sie aufs Geratewohl an die Kinder verteilten. Diesen waren solche Gesten fremd, weshalb sie erst nach mehrfacher Aufforderung die Hände ausstreckten. Als die Sonne schon auf den Mittag zuging, wollte Sarkis Sârenț der Menge zurufen, sie möge sich beeilen, aber Bischof Knel hielt ihn zurück. Er hatte mit eigenen Augen die Konvois gesehen und war vertraut mit deren Langsamkeit. Ebenso hielt es auch Armenag Manisalian, der von den Treppen seines Hauses auf der Strandpromenade zuschaute und nicht auf den Bischof zuging, um sich zu bedanken, auch nahm er die Dokumente, die ihm die vierhundert Waisenkinder anvertrauten, erst entgegen, als jeder der Wartenden an den Kindern vorbeigegangen war.
    Misak Torlakian spürte einen Knödel im Hals, als er die Kinder, je zwei, die sich an der Hand hielten, vom Schiff herabsteigen und sich artig in Zehnerreihen zu je vierzig aufstellen sah, damit man sie noch einmal zählen konnte und ein Raum für die Wartenden entstand, sodass diese sie eingehend mustern konnten. Er wollte als einer der Ersten auf sie zurennen, aber er befand, es sei angebracht, den Frauen den Vortritt zu lassen, schließlich ist die Sehnsucht einer Mutter stärker. Er näherte sich Bischof Knel Kalemkelian, der aufrecht und mit regloser Miene die zwei Formationen betrachtete, die eine unbewegt, während die andere sich sachte wie das Seil um die Schlepptrosse wand. Er kniete nieder und küsste dem Bischof die Hand.
Astvadz ocnagan, srpazan
, sagte er, Helfe uns Gott, heiliger Vater, und Knel legte ihm die Hand auf den Scheitel und flüsterte:
Astvadz bahaban, dghas
, Gott behüte dich, mein Sohn. Mit dieser Segnung ging Misak Torlakian auf die erste Reihe zu. Sein kleinerer Bruder müsste jetzt etwa zwölf Jahre alt sein, aber er wusste nicht, was dies für ein Kind bedeutet, mit zwölf Jahren war er schon Flintenträger und Geländeführer bei den Fedajin gewesen, er hatte nicht allzu lange unter anderen Kindern gelebt und konnte sie altersmäßig nicht unterscheiden. Er hatte nur so an seinen Bruder gedacht, wie er damals war, als er ihn zum letzten Mal umarmt hatte, nachdem er von der Front in Erzerum desertiert und bis in sein Dorf, nach Ghiușana, geeilt war, um sich von den Seinen zu verabschieden, bevor er über die Grenze nach Russland ging. Damals, 1914, war Calust, was auf Armenisch
der kommen wird
heißt, drei Jahre alt, er war ein verschlafenes Kindchen mit ins Gesicht hängenden Locken, das nach mit Brunnenwasser vermischter Milch roch. Nun aber musste er einen Jüngling suchen, und das brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Er ging langsam, las aufmerksam alle Namen, selbst wenn deren Träger Mädchen oder viel zu kleine Kinder waren, als dass sie sein Bruder Calust hätten sein können. So langsam, dass manch einer ihn von hinten anschubste oder ihn beiseiteschob, und die Kinder, verstört von der eindringlichen Suche dieses Mannes, ihn überrascht anschauten, dann senkten sie schnell den Blick, als wollten sie sich verstecken. Er ging langsam, damit die Reihen sich nicht zu schnell erschöpften und die hoffnungsvolle Suche beendet sei. Aufgrund ihrer traurigen Mienen und der unnatürlichen Folgsamkeit, die eher Verweigerung denn Fügsamkeit meinte, glichen sich all diese Kinder auf gewisse Weise. Andererseits schien keiner jener Junge aus dem Geschlecht der Torlakians zu sein, das Misak, hätte er denn gewusst, was geschehen sollte, mit dem Recht der zwanzigjährigen Altersdifferenz wie seinen eigenen Sohn mitgenommen hätte. Als er auf die letzte Reihe zuging, verlangsamte er seine Schritte noch einmal, schaute nicht mehr über die Köpfe der Kinder, wollte nichts vorwegnehmen, das seine Suche hätte verkürzen können. Er blieb bei einem Jüngling stehen, der im Alter seines Bruders sein konnte, und auf dessen Kartonschildchen tatsächlich der Name Calust stand. Nur der Vorname, kein Familienname. Was nur heißen konnte, dass es einer der aufgefundenen Jungen war, es war eigentlich nicht sein Name, vielleicht

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