Buch des Flüsterns
erhalten. Er dachte, da sei Gottes Hand im Spiel gewesen, das Pferd aus seinen Träumen wieherte frei und erhob sich auf die Hinterbeine. Er eilte nach Buzău, übernachtete beim Kaufmann Hazarian, stieg in aller Herrgottsfrühe in den Zug aus Iași und suchte ihn fieberhaft in allen Abteilen. Er erkannte ihn, in einen russischen Pelzmantel gehüllt, an dem verwegen wirkenden Schnauzbärtchen und seinem scharfen Blick. Wird es so sein wie früher, General?, fragte er ungestüm. Wie in den guten Zeiten ... Es ist Frieden, sagte General Dro. In einer Zeit wie dieser ist es für uns schwer, durch Kampf unsere Grenzlinien wiederzugewinnen ... Aber wie lange sollen wir uns denn noch in Geduld üben?, fragte Misak Torlakian verunsichert. Bis wieder Krieg sein wird, Misak, sagte General Dro. Jedem, der von dort kommt, ist klar, dass Russland zu arm ist, als dass es eine lange Friedenszeit durchstehen könnte. Es wird Krieg geben, Misak, und diesmal müssen wir unter den Siegern sein.
Am Bahnhof von Bukarest stiegen sie aus. Misak begleitete ihn zum Konsulat von Armenien. Harutiun Khântirian empfing ihn mit allen Ehren, das heißt, dass er die Trikolore entrollte, die Porträts aufhängte und die Stempel aufreihte, er befeuchtete die Tuschekästchen wie für den wahren Regierungsvertreter der Republik Armenien und verbarg eilig die nichtssagenden Depeschen aus aller Welt und die Zeitungsausschnitte mit den Verlautbarungen der verschiedenen Exilregierungen in den hintersten Schubladen. Sie trafen sich alle, Siruni, Saruni, der alte Harutiunian, die Brüder Hovnanian, und General Dro sprach mit seiner dünnen, aber kräftigen Stimme zu ihnen: Ihr fragt, gegen wen wir zuerst kämpfen werden? Ich antworte euch umgehend: gegen die Bolschewiken. Die Türken haben unsere Körper ermordet, aber die Bolschewiken ermorden unsere Seelen. Wir müssen unsere Seelen retten, damit wir – endlich unsere Seelen erlöst – unsere zerstückelten Körper wieder beseelen können! Diese Worte erfreuten Misak Torlakian. Aber sie bedeuteten auch das Todesurteil für Dros Familie, die Stalin als Geisel in Sibirien festhielt. Während die Zuhörer, wenn sie nicht in der Friedenszeit zwischen den beiden Kriegen oder im Krieg selbst gestorben sind, allesamt von der Roten Armee verhaftet, in den Weiten Sibiriens starben oder bucklig und beinahe blind, nur noch mühsam den sibirischen Frostwind durch die Nüstern ziehend, zurückkehrten.
Der Frieden ist etwas für die Sieger, sagte General Dro. Wozu dient uns der Frieden? Es ist schwerer, als Besiegter im Frieden zu leben als im Krieg. Der Krieg gibt dir immerhin noch eine Chance. Betrachten wir also den Frieden als das Vorspiel eines neuen Krieges. So werden wir uns die Hoffnung erhalten.
Die Worte von General Dro hatten einen Magnetismus, dem sie nur schwerlich widerstehen konnten, gesetzt, es hätte ihm jemand widerstehen wollen. Aber sie ließen sich von der Vibration seiner Worte tragen, träumten von ihrem großen Armenien, das in einem Rhombus die drei Seen und den kilikischen Mittelmeerbogen vereinte, vom Reich Tigrans des Großen, zumal der Redende der Held von Sardarapat 24 war. Dann kehrten sie zurück zu ihren Geschäften, an die Tresen ihrer Banken, in die Handelskammern, in die Warenlager und zu den Getreidesilos, berechneten die Börsenkurse und verglichen die Anlagen in Edelmetallen mit jenen in Titeln und Obligationen. Als sie ihre Kriegsangst überwunden hatten, verstreuten sie sich, um sich heimlich der Wohltaten des Friedens zu erfreuen. Und diejenigen, die nicht zu den Lehrern an den armenischen Schulen oder Kustoden der Bibliotheken zählten, bereicherten sich weiter und verlängerten die Liste der Wohltäter auf der Marmorplatte an der Armenischen Kathedrale, und als diese keine weiteren Einträge mehr fassen konnte, errichteten sie Trinkbrunnen, stifteten sie Druckereien, bauten sie Häuser für Waisenkinder, für Schulkinder und für Bücher. Sie verstreuten sich und wandten sich ihren neuen Bestimmungen zu. Misak Torlakian aber blieb bei General Dro, klammerte sich schier verzweifelt an dessen Worte und Träume.
Als Dro dann mit aus Amerika erhaltenem Geld und der Hilfe einiger früheren Kampfgefährten seine Erdölgeschäfte begann, wurde Misak Torlakian eine Art Verwalter. So entfernte er sich nicht allzu sehr von den Versprechungen seiner Jugendzeit. Er lernte, dass in diesen Zeiten nicht nur Dinge mit Rohr und Abzug zu den Waffen zählten. Er verwaltete die
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