Buch des Flüsterns
nicht traurig oder heiter, sie waren gelassen. Ihre Freuden und Schmerzen führten wie Brücken über die ungewissen Zustände hinweg. Gerade weil auch ihre Schmerzen wahr waren, konnten sie sich wahrhaftig freuen. Ich habe sie lachen gesehen, aber nur selten lächeln. Großvater, für den Leben weitgehend Verstehen bedeutete, setzten ungewisse Zustände heftig zu. Er bemühte sich nicht, die Welt vom Bösen ins Gute zu wenden, sondern vom Unklaren ins Einleuchtende. Für ihn waren die ungewissen Zustände Ausdruck der Frische. Deshalb lächelte er, und weil er über die Kraft und den Zauber des Lächelns verfügte, hielten ihn die anderen für ihren Anführer.
Dies aber wird im Focșani der sechziger Jahre und an umzäunten Orten der Fall sein, wie es unser baumbestandener Garten oder der Friedhof waren, auf dem die steinernen Kreuze Seite an Seite mit den Bäumen aus dem Boden wuchsen. Nun befinden wir uns noch im Frühjahr 1923 und in einer Bukarester Seitengasse. Einer der Männer, Misak Torlakian, hat den Kopf an die Wand gelehnt, als läge er auf einem Kissen. Mondsüchtig, selbstverständlich, hätte Rechtsanwalt Hmaiag Khosrovian hinzugefügt. Mit Tränen in den Augen empfand sich Misak Torlakian angesichts der ihn umgebenden Welt als Verirrter, während der andere Mann, Garabet Vosganian, lächelte, weil ich noch nichts verstehe, sagte er sich; weil er sich über mich lustig macht, sagte sich der andere, oder aber er hat Mitleid mit mir, oder er tut nur so, als habe er Mitleid. Jedweder dieser Gründe erschien Misak Torlakian als ausreichend, sich auf meinen Großvater zu stürzen. Weil aber Garabet Vosganian einen halben Kopf größer und geschickt genug war, sich zu schützen, konnte Misak Torlakian ihn nicht treffen. Später sollte er sagen, es habe auch gar nicht in seiner Absicht gelegen, aber Großvater war sich da nicht so sicher. Misak packte ihn am Revers seines Überziehers und näherte sich mit seinem Gesicht, wobei er ihn anzischte: Sag niemals, dass du mich hast weinen sehen! Wem sollte ich das denn sagen?, fragte Großvater, immer noch lächelnd, diesmal aber etwas verlegen. Ich weiß nicht, niemandem, fauchte Torlakian drohend. Männer wie ich weinen nicht. Wer sind die Männer wie Sie? Dies musste Großvater nun beinahe nicht mehr fragen. Das sind wenige, aber es gibt sie ... Wir sind die, die nicht vergessen. Mögen alle anderen weinen, entkommen ... Schwör jetzt, dass du es keinem sagen wirst! Großvater lächelte nun nicht mehr. Ich schwöre, sagte er.
Langsam ließ ihn Misak Torlakian los und glättete dabei die von seinen Händen verknitterten Revers. Er reichte ihm die Hand. Ich bin Misak Torlakian, sagte er, aus dem Dorf Ghiușana im Wilajet Trapezunt. Und ich bin Garabet Vosganian aus Afion Karahisar, und schüttelte ihm die Hand. Dann wischte sich Misak Torlakian mit dem Ärmel die Tränen von den Wangen und war geheilt. Während Garabet Vosganian durch seinen Schwur zum Bewahrer seines Weinens geworden war. Und genau so wie es uns das
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erzählen wird, hielt mein Großvater bis zu seinem Tod sein Versprechen, Misak Torlakians Weinen für sich zu behalten, strengstens ein.
Jenes Jahr 1923 sollte für Misak Torlakian das Jahr des Weinens sein. Damit es sichergehen konnte, dass er dies nicht vergessen werde, sollte ihn das Schicksal zweimal weinen lassen. Das zweite Mal aber weinte Misak Torlakian allein. Er kniete im Sand und hatte das Gesicht dem Meer zugewandt.
DIE GESCHICHTE VOM LETZTEN AUFENTHALT IN TRAPEZUNT IM JAHR DES WEINENS . Wähle dir einen Tag aus deinem Leben aus, der dann alles entscheiden wird. Den Tag, durch den man den Sinn deines Lebens am besten beschreiben könnte. Für Misak Torlakian war dies der 24. Mai 1923. Er hatte keine Waffe dabei und war nicht von dem Wunsch geleitet, zu töten, was nur heißt, dass sein Leben nicht allein durch das erklärt werden kann, was in dem Heft im Schrank meines Großvaters Garabet Vosganian steht. Mehr noch, was er damals in der Hand hielt, war nicht die Mauser, von der er sich während seiner gesamten Jugendzeit niemals getrennt hatte, sondern ein Kinderspielzeug, was den Leser des
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verwundern könnte. Aber nur, wenn er die Geschichte nicht bis zur letzten Seite liest.
Vielleicht ahnte Misak Torlakian, dass dies der entscheidende Tag sein werde, und durchlebte ihn deshalb mit größter Intensität vom Morgengrauen bis zum Einbruch der Nacht. Er hatte schlecht geschlafen, sich im Schlaf
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