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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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hatte man ihn in der überfüllten Kapelle des Waisenhauses neu getauft. Er schaute ihn lange an, das Kind hatte den Blick abgewandt, war verlegen oder auch erschöpft von den vielen Leuten, die vor ihm vorbeigezogen waren. Er hatte einen Apfel bekommen, den er zur Hälfte gegessen hatte, den Rest hielt er in der Hand, und der Saft rann ihm über die Finger.
    Misak Torlakian wollte etwas sagen, aber er wusste nicht, was. Weißt du noch, wer deine Eltern sind, wo du herkommst, erinnerst du dich an mich? Da er jedoch nicht wusste, was er zuerst fragen sollte, holte er das Spielzeug aus der Tasche, das er unter den durcheinandergeworfenen Sachen in der Ruine ihres Hauses gefunden hatte. Daran musste sich der Junge erinnern. Er bückte sich zu dem Jungen hinunter und hatte das Spielzeug auf der Handfläche liegen, da wandte ihm das Kind seinen Blick zu. Nun biss sich Misak Torlakian auf die Lippe, beherrschte sich, um nicht in Tränen auszubrechen, und schloss die Hand über dem Spielzeug. Dieser Junge schaute ihn aus sanftmütigen, braunen und irgendwie freundschaftlichen Augen an, aber Calust, sein Bruder, hatte große blaue Augen, die in einer Familie von Gebirgsarmeniern mit dunkler Haut ungewöhnlich waren. Letztlich hatte kein Kind Calusts ungewöhnlich blaue Augen. Misak Torlakian entfernte sich und schaute sich bis zum Ende alles an. Als sich die beiden Gruppen trennten, kam Armenag Manisalian zum Hafen herunter, unterschrieb und nahm die Kinder in Empfang. Bischof Knel segnete noch einmal die Menge und die Kinder, dann händigte er dem Kapitän die Dokumente aus. Torlakian schaute zu, wie die Kinder auf Pferdefuhrwerke verladen wurden, die sich langsam entfernten; wie die Menge schweigend zurückblieb und daraus hin und wieder ein Abschiedswinken zu sehen war, man wusste nicht, wem es galt, am ehesten noch den verlorenen Gestalten; wie sich aus der Menge ein Mann mit seiner Frau herauslöste, die ein Mädchen in den Armen hielt, und wie sie hinter dem Konvoi der Fuhrwerke dahingingen. Es war Nșan Maganian, der, auf ein Wunder hoffend, gekommen war, seine in der Wüste Mesopotamiens verscharrte Tochter zu suchen. Er hob seine Frau Azniv und ihre schon im Aufnahmeland geborene Tochter Anahit auf einen der Pferdewagen und beglich seine Schuld, indem er zu Fuß die vierhundert Kilometer nach Strunga bei Iași den Pferdewagen folgte. Manisalian hatte dort in einem verlassenen Gutshaus das Waisenhaus für die vierhundert Kinder eingerichtet. Als Misak Torlakian sich entschloss, den fremden Jungen namens Calust zu suchen, war es schon zu spät. Das Waisenhaus hatte es nur drei Jahre lang gegeben. Die Listen mit den Namen der Kinder hatte man in die ganze Welt geschickt, viele hatten Verwandte in den vier Himmelsrichtungen gefunden und den Weg zurück nach Constanța genommen, um andere Meere zu überqueren zu wieder neuen Ufern hin, und die anderen waren von mildtätigen Familien aufgenommen worden. Schließlich sammelte der Lehrer Nșan Maganian die Archivalien des Waisenhauses ein und kam nach Ploiești.
    Misak Torlakian blieb als Letzter an jenem Ufer zurück. Die Kais waren verödet, die Fischerboote kehrten ans Ufer zurück, die Landungsstege wurden auf die Schiffe hochgezogen und die Lichter gelöscht. Er kniete nieder und weinte lange und gehörig, ein gesprochenes Weinen, wie das Weinen derer, die in die Todeskreise von Deir-ez-Zor hinabstiegen, wie das Weinen meiner Großeltern, ein Weinen, in dem er erzählte, verdammte, fluchte, ein Weinen, das ihn nicht befreite, sondern in sich selbst versammelte. Er schaute aufs Meer, seine Hoffnungen waren zerschlagen, und seine Lippen murmelten unverständliche Worte. Spätnachts brach er auf zu seiner ärmlichen Stube, allein von der Erinnerung an die blauen Augen seines Bruders Calust begleitet, dem, der kommen wird, und von der Segnung Gottes, die Bischof Knel über ihm ausgesprochen hatte, aber diese sollte nur einen Augenblick lang auf Misak Torlakians Scheitel verweilen.
    Ich habe eine Weile geglaubt, Hovhannes Kaciaznuni hat jene Sätze über die Bolschewiken gesagt, um dich vor Stalin zu schützen, sagte Misak Torlakian zu General Dro. Ich dachte, er habe sich mit den Bolschewiken gut stellen wollen, um dich zu retten. Wohingegen er in die Sowjetunion und zu den Bolschewiken gegangen ist, und du wohlbehalten von dort zurückgekehrt bist!
    Misak hatte als einer der Ersten, von Tatevos Bedrosian, die Nachricht von Dros Befreiung und seiner Ankunft in Rumänien

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