Buch des Flüsterns
um- und umgewälzt. Kurz nach Mitternacht war er aufgewacht, hatte sich in der Waschschüssel das Gesicht gewaschen, beim Licht der Lampe in einer Spiegelscherbe rasiert und die widerspenstigen Haarsträhnen geglättet, indem er sich mehrmals mit den nassen Fingern durch die Haare gefahren war. Er hatte seine besten Kleider angezogen, sie gebürstet, die Schuhspitzen mit Wachs poliert, den Krawattenknoten zurechtgerückt, den Kragen seines Anzugs geglättet und den Hut aufgesetzt. In der Spiegelscherbe begegnete er seinen flackernden Augen, und anstatt nun mit sich zufrieden zu sein, fürchtete er sich. Er trat aus dem Haus und sog die kühle, süß-salzige Luft der Gerberstraße ein, irgendetwas passte ihm offenbar nicht, er knöpfte den Anzug zu, dann knöpfte er ihn wieder auf und versenkte seine Hände in den Taschen. Er nahm den Hut ab, um die Haarsträhnen hinter den Ohren zu glätten, dann packte er ihn an seinem schmalen Rand und wusste nicht mehr, was er mit ihm anfangen sollte. Plötzlich begriff er, dass all dieses Zurechtmachen nur dazu gedient hatte, die Zeit verstreichen zu lassen, er hatte sich sinnlose Betätigungen ausgedacht, um die Begegnung mit dem Meeresufer hinauszuschieben. Er kehrte nachhause zurück, zog seine neuen Kleider aus und verstreute sie auf dem Boden, als wollte er sich von ihnen befreien, dann zog er ein Paar Leinenhosen an und ein buntes Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln. Dann ging Misak Torlakian über die langen, sich rechtwinklig schneidenden Straßen von Constanța geradewegs zum Meer hinunter.
Er stand beiseite, schaute den Dockarbeitern zu, die Seile festbanden und wie kleine graue Schemen auf dem Kai herumwerkelten. Wenn die breitschultrigen Fischerboote still ins Meer stachen, lauschte er dem plätschernden Anschlag des Wassers. Reglos saß er da, empfing die schneidende Brise im Gesicht, die ihm allmählich von den ersten Sonnenstrahlen vergolten wurde.
Noch von seiner langen Lauer im Gebirge daran gewöhnt, reglos abzuwarten und einen Punkt am Horizont anzupeilen, nahm er die anderen Leute erst dann wahr, wenn ihn jemand auf Armenisch grüßte. Dann sah er, dass sich ein paar Dutzend Leute um ihn herum versammelt hatten und ihre Zahl stetig zunahm. Er ging zur Seite, um die Pfarrer nach vorne durchzulassen. Dahinter die Frauen, die sich die Hände rauften. Niemand sprach, denn sie hätten alle die gleiche Geschichte zu erzählen gehabt, die Geschichte ihres Wartens, in der jeweils ein Detail, nämlich der Name des gesuchten Kindes, anders war. Die Behörden hatten ein dickes Seil spannen lassen, damit sich die Menge nicht dem Kai nähern konnte. Als es richtig hell geworden war und sich der Nebel über dem Meer gelichtet hatte, konnte man am Horizont das Schiff erkennen. Misak Torlakian umklammerte das Seil, bis seine Finger weiß waren. Es vergingen noch gut zwei Stunden, bis das Schiff am Kai anlegte und ein paar Offiziere, die Misak an ihren Uniformen als Türken erkannte, herabstiegen und den Behörden die Passagierlisten überreichten. Diese, je zwei, die sich an den Händen hielten, wurden gezählt und dann in Reihen zu je vierzig aufgestellt, insgesamt vierhundert. Das Aussteigen dauerte etwas über eine Stunde. Die Passagiere waren Kinder, und der Anblick dieses neuen Ufers, die bunt gemischte Menge, die sie von jenseits der dicken Seile anschaute, beängstigte sie, sodass sie das natürliche Bedürfnis empfanden, sich aneinanderzudrängen. Diese Reaktion aber schien diejenigen zu schmerzen, die hier stundenlang gewartet hatten. Sie schwiegen und schauten sich an. Die sich angeschaut fühlten, taten einen Schritt zurück und schlossen die Reihen; die wiederum, die schauten und verzweifelt unter den kleinen verstörten Gesichtern nach Familienähnlichkeiten suchten, taten einen Schritt voran, wollten sie umarmen. Die Seile spannten sich, die mit der Wahrung der Ordnung Betrauten stemmten sich gegen die Menge. Eine Stelle, an der diese Linie durchbrochen worden wäre, hätte gereicht, und die Leute hätten jedes Hindernis beiseitegefegt und wären auf die Kinder zugelaufen.
Für Kinder bedeutete jede Annäherung eine Bedrohung. Sie waren es gewohnt, nichts Gutes zu erwarten, hatten Situationen durchgemacht, die sie nicht verstanden, man hatte sie an den Wegrändern eingesammelt oder unter den Planen der Wagen hervorgezogen, mit denen die Leichen transportiert wurden. Manche von ihnen hatte man von der Lagerstatt der sterbenden Mutter weggezerrt. Wieder andere
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