Buch des Flüsterns
waren von ihren Eltern den Behörden übergeben oder in den Niederlassungen der Wohlfahrtsgesellschaften abgegeben worden, damit sie von dem Weg ins Verderben erlöst würden. Sie hatten in Waisenhäusern gelebt, die von Kongregationen, verstreut zwischen Adana und Beirut, unterhalten wurden, waren zur Arbeit in den Webereien von Aleppo und Damaskus herangezogen worden. Wenn sie sich nicht mehr an ihren Namen erinnern konnten, hatte man ihnen Leihnamen gegeben; sie trugen die gleiche Kleidung, waren brav und schauten aus schmalen, lauernden Augen. Man konnte sie nicht mehr den moslemischen Familien anvertrauen, denn sie waren schon als Armenier registriert worden, es herrschte Frieden, und die ausländischen diplomatischen Vertreter hätten gegen diese gewaltsame Islamisierung protestiert, auch konnte man sie nicht sich selbst überlassen, denn während des Aufwachsens hätten sie sich erinnern oder gar alles begreifen können, was zu einer Gefahr für die Autoritäten werden konnte, die deshalb befanden, es sei die beste Lösung, sie loszuwerden. In alle Welt hatte man Appelle verschickt, die vierhundert, den Todeskreisen entkommenen und in Waisenhäusern verstreuten Kinder wurden nach Konstantinopel gebracht. Die Armenische Gemeinde Rumäniens hatte sie durch ein von Armenag Manisalian, dem Vorsitzenden, unterzeichnetes Antwortschreiben angefordert. Davon wussten die Kinder nichts, und deshalb waren sie verängstigt, als sie nun jenseits des Meeres ein neues Ufer betraten.
Vor den Kindern war ein weißhaariger Mann, der ein Mädchen an der Hand führte, vom Schiff herabgestiegen. Es war Sarkis Sârenț, der in den drei Jahren, die das Waisenhaus von Strunga existieren sollte, dessen Direktor war. An seiner Seite befand sich noch ein Kirchenmann. Dem großen Kreuz nach, das er auf der Brust trug, und der spitzen Mütze, musste es sich um einen hohen Würdenträger handeln. Erst später, als Armenag Manisalian auf ihn zuging und ihm die Hand küsste, erfuhren sie, dass er Bischof war, einer von denen, die unter den Armeniern verblieben und wie durch ein Wunder den Massakern in Konstantinopel entgangen waren, Bischof Knel Kalemkelian. Er machte nicht die geringste Geste, um die Menschen zurückzuhalten, erhob bloß die Hand, machte das Kreuzeszeichen und murmelte ununterbrochen
Der voghormia
, Gott erbarme sich. Auch hatte er keinen Grund, ihnen Einhalt zu gebieten, schließlich hatte man die Kinder doch gebracht, damit sie ihre Familien fänden oder Erbarmen. Jedes Kind hatte ein Pappkartonschild um den Hals hängen, auf dem sein armenischer Name stand. Bei denen, die von ihren Eltern zwischen zwei Konvois anderen anvertraut worden waren, und den Größeren, die schon wussten, wen sie zu beweinen hatten, deren Vor- und Nachnamen also bekannt waren, hatte man diese auf Armenisch mit Ölfarbe auf den Karton geschrieben. Diejenigen, die man am Lager ihrer sterbenden Mütter oder verlassen am Wegrand aufgefunden hatte, zu klein, als dass sie etwas davon begriffen hätten, was mit ihnen geschah, und gerade deshalb mit dem Leben davongekommen waren, trugen nur Vornamen, Leihnamen, gewiss, die vielmehr Adjektive als Namen waren, Antranig hieß manch ein Kleiner, Anuș das eine oder andere hübsche Mädchen und Lopig das etwas rundlichere.
Beim Anblick des Bischofs und der sich nähernden ersten Reihe Kinder mit den Kartonstückchen auf der Brust zögerte die Menge. Als sie sie aus der Nähe betrachteten, so ärmlich angezogen, in grauen, flüchtig und mit großen Nadelstichen zusammengenähten Kleidern, zu große unverschnürte Schuhe an den Füßen, mit roten, pustelnübersäten oder erdfarbenen Gesichtern von der schlechten Ernährung, die Hände vor dem Leib ineinandergelegt, damit man die ungeschnittenen Fingernägel nicht sehen konnte, schlugen sich die Frauen die Hände vor den Mund, und die Männer, solchen Verhältnissen weit weniger gewachsen, hielten sich im Hintergrund. Auch waren es die Frauen, die den Mut hatten, auf die Kinder zuzugehen. Jedermann war in Erwartung eines bestimmten Kindes gekommen, jeder hatte ein während der Deportationen verlorenes Kind, das er lebend wiederzusehen hoffte, ein eigenes oder eines aus der Verwandtschaft. Weil aber manche von ihnen nicht mit den armenischen Buchstaben vertraut waren oder diese etwas linkisch auf die Kartonstückchen geschrieben worden waren, vielleicht sogar von den größeren Kindern, vielleicht auch, weil sie nach diesen Jahren die Gesichtszüge der Kinder
Weitere Kostenlose Bücher