Buch des Flüsterns
ersticken, die er ihm in den Mund gedrückt hatte. Großvater Garabet zuckte mit den Schultern, aber die anderen schauten über seine Schultern hinweg, und als sie die aufs ungehobelte Holz des Kreuzes geschriebenen Namen sahen, empfingen sie von Anton Ferhat die erste Antwort hinsichtlich der Ereignisse, die kommen sollten.
Die zweite Antwort kam von
E
ș
ek
Simon, also von Simon Măgarul 26 , ein anderer Simon als mein Onkel, der sich zu jener Zeit, verlockt von den Fanfaren, Restaurants, geschenkten Häusern und Steuerbefreiungen, mit denen ihn die Losungen der kommunistischen Armenier von der anderen Küste des Schwarzen Meeres her geködert hatten, auf seine Repatriierung vorbereitete.
E
ș
ek
Simon war klein, hatte drahtiges Haar, das geradezu senkrecht nach oben gekämmt war, als hätte er eine Schuhbürste auf dem Kopf getragen. Jenseits seines lächerlichen Aussehens hatte seine Haartracht immerhin die Funktion, seiner Größe noch etwas hinzuzufügen, oder besser, seiner fehlenden Größe, ebenso wie die Schuhe mit den hohen Absätzen, die Krikor Minasian speziell für ihn angefertigt hatte. Er hatte schwarze durchdringende Augen, die jedes für sich genommen schön waren, aber leider schielte er dermaßen stark, dass seine Blicke sich schon über der Nasenwurzel rechtwinklig schnitten. Übrigens hatte
E
ș
ek
Simon sich selbst in dem Autoporträt, das er an Der Ignadios nach Galați in der Hoffnung geschickt hatte, einen vorderen Platz auf der
Liste der Entsprechungen
zu ergattern, so beschrieben: »Schöne Augen sein vorhanden, schaut nur eines mir zum andern.«
Vor dem Krieg hatte
E
ș
ek
Simon eine Teestube auf der Hauptstraße eröffnet, wo er, um sich eine Kundschaft zu schaffen, zusammen mit Kemancist Rupen, der dafür extra aus Constanța angereist war, kleine Veranstaltungen organisierte. Kemancist Rupen, noch kleiner als er, war auf einen Stuhl ohne Lehne geklettert und ließ seine Beine im Leeren baumeln, die paar Haarfäden vom Schädel her waren in einem schönen Bogen über die Stirn gelegt und mit Brillantine eingeschmiert; er spielte die
Kemancea
, eine Art Mandoline, und seufzte wehmütig nach seiner Geliebten, womit er die Seufzer meiner Großmütter und Tanten sowie anderer Damen jener Zeit hervorrief, die in eng an der Taille anliegenden Kostümen steckten, ihre Handtaschen auf dem Schoß hielten und die Spitzen ihrer Schnallenschuhe kreuzten, denn es galt als unschön, die Beine übereinanderzuschlagen, zumal es sich um ein Teehaus und nicht ein Café handelte, und ab und zu wischten sie sich mit dem Taschentuch heimliche Tränen aus den Augenwinkeln. Unsere Großmütter und Tanten waren dicklich und hatten Grübchen in den Wangen und an den Ellbogen. In ihrer drallen Art gefielen sie den Männern im Teehaus, die in ihren steifen Anzügen schwitzten, den Hals abgeschnürt von starren Fliegen. Gerade deshalb konnten die Rundungen ihrer Hüften und Wangen ihren koketten Antrieb, feine Keksstückchen im Tee einzuweichen und sich anschließend mit den Fingerspitzen die Krümel aus den geschwungenen Winkeln ihrer Lippen zu wischen, nicht im Geringsten besänftigen. Und sie kicherten oder lachten lauthals, als nach dem Jammergesang
Kemancist
Rupens, der ab und zu von den Seufzern der Zuhörerschaft: »Vah! Vah!« oder tiefer: »Aman! Aman!« unterbrochen worden war,
E
ș
ek
Simons kleine Szenen folgten. Da er zu jung war, als dass er vor den Massakern in Erzerum zur Schule hätte gehen können, und jetzt zu alt, als dass er sie dort wieder hätte aufnehmen können, wo er sie gar nicht verlassen hatte, sprach
E
ș
ek
Simon eine ganz und gar durchmischte Sprache, die allerdings den Vorteil hatte, dass sie unabhängig von irgendeiner Nation von allen verstanden wurde. Seine in verdrehten Wörtern vorgetragenen Sketches klangen lustig und lösten in Verbindung mit dem ernsthaften Ton, in dem er sie vortrug, seiner Haarbürste, die sich wie Pharaonenschmuck über seinem kleinwüchsigen Körper erhob, und dem verknoteten Blick Salven von Gelächter aus. Seine Gedichtchen wurden auch lange nach seinem Tode noch aufgesagt, auch wir Kinder hatten einige davon auswendig gelernt und sagten sie bei Unterhaltungen auf, und die alten Armenier lachten wieder wie in
E
ș
ek
Simons Teehaus. Hier eines der berühmtesten seiner Gedichtchen, die Fabel
Die Grille und die Ameise
, die, gefügt in gebundener Form, in einem tadellosen Rumänisch-Türkisch-Armenisch vorgetragen wurde:
Grille und Pornic
Madame
Weitere Kostenlose Bücher