Buch des Flüsterns
hinten in seinem Hof. Die Familie Ferhat veranstaltete üppige Mahlzeiten, insonderheit aus Initiative der respektablen Madame Ferhat, die beim Beaufsichtigen ihrer auf der Ofenplatte brodelnden Töpfe aus ihrem tiefsten fettgepolsterten Inneren heraus seufzte: Wie schrecklich, wenn man hungrig ist! Der Tisch war offensichtlich nur für Frau und Herrn Ferhat gedeckt. Dann, vor der Unzahl leerer Teller, an deren Rändern das Fett glänzte, den gewaltigen Hintern in den Schraubstock des Sessels gequetscht, seufzte Madame Ferhat noch einmal, diesmal abschließend, schlussfolgernd: Wie schrecklich, wenn man hungrig ist, wie schrecklich! Die Gäste kamen jedoch erst nach der Siesta, wenn die Spuren des Mittagessens vollständig beseitigt waren. Die von Familie Ferhat angebotene Bewirtung war stets die gleiche und trotzdem unterschiedlich, von August bis Oktober jeweils eine Schüssel mit Pflaumen, anfangs grünlich und von der Größe einer kleinen Mirabelle und später, auf den Herbst zu, immer reifer. Und im restlichen Jahr war die gleiche Schüssel mit getrockneten Pflaumen gefüllt, deren heilsame Wirkung die Familie Ferhat unablässig rühmte. Nun gut, eben in den Ästen jenes so nützlichen Pflaumenbaums vernahm der alte Herr Ferhat an einem Septemberabend ein beunruhigendes Rascheln. Er griff sich sein Gewehr und schlich mit dem verzweifelten Elan dessen, der soeben das Teuerste auf der Welt zu verlieren droht, unter den Pflaumenbaum, wo er sein Gewehr entsicherte und zu schießen drohte, indem er aufs Geratewohl nach oben zielte. Sein Vorgehen wirkte bei weitem nicht so entschlossen wie überraschend und brachte es mit sich, dass der Eindringling erschrak und ein Jugendlicher, von herabgeschüttelten Blättern und Früchten begleitet, zwischen den Ästen herabfiel und sich zitternd, die Hände erhoben, an den Baumstamm stellte. Herr der Situation und überaus empört, befahl Ferhat dem Burschen, sich nackt auszuziehen, und mit einer finsteren Drohung für den Wiederholungsfall stieß er ihn mit dem Gewehrkolben nackt auf die Straße. Der Pflaumenbaum setzte nach diesem Vorfall ungestört seine Früchteproduktion fort, Jahr um Jahr, mindestens ein Jahrzehnt lang. Als die Russen kamen, requirierten sie alle Waffen, und Herr Ferhat, wie alle Geizkragen die Schärfe des Gesetzes fürchtend, gab sein Gewehr ab, verlangte dafür aber einen Bon, auf dem sein Name eingetragen sein sollte, damit zumindest theoretisch sein Kataster nicht zu leiden habe, sein Eigentumsrecht respektiert sei und man ihm eines schönen Tages das Gewehr zurückgeben könne. Und seine Erwartungen wurden erfüllt, wenngleich nicht ganz genau auf die Weise, die er sich gewünscht hatte. Der Jugendliche aus dem Pflaumenbaum war mittlerweile ein erwachsener Mann geworden, und weil die Betätigung, der er sich, wie wir gesehen haben, hingegeben hatte, ihm in jenen undurchsichtigen Zeiten vielfältige Perspektiven eröffnete, trat er in die neue politische Polizei ein; er bekam einen Ledermantel, Stiefel, mit denen man gut durch Treppenhäuser trampeln, Türen eintreten und sie den Leuten in den Bauch rammen konnte, sowie das Recht, in allerlei Papieren herumzublättern, wie zum Beispiel in dem Register der beschlagnahmten Waffen. Wo gleich obenan Anton Ferhats Name eingetragen war. Wir kennen den Namen des Mannes nicht, denn es hat ihn danach niemand gesucht, aber er wurde von den Lesern des
Buchs des Flüsterns
als der diebische Bube identifiziert. Denn über dem Leib des armen Alten wurde das Gewehr gefunden, und man hatte ihm ein paar getrocknete Pflaumen zwischen die Kiefer gesteckt, deren heilsame Wirkung ohne Resultat geblieben war, denn Anton Ferhat blutete bis zu seinem Tode, ohne dass irgendjemand auf der Straße sein Stöhnen gehört hätte. Der Mann hatte an die Tür geklopft, und die ihm geöffnet hat, war Frau Ferhat, die auf die Frage hin, was er denn wünsche, zur Antwort eine Kugel in die Brust und eine in die Stirn bekommen hat. Irritiert, jedoch nicht durch die Schüsse, denn zu jener Zeit waren sie recht üblich, auch nicht durch den Lärm, mit dem sie zu Boden gefallen war, denn auf welche Seite sie auch gefallen wäre, die weiche Polsterung von Madame Ferhat hätte keinen Laut entstehen lassen, sondern durch die Stille, die sich danach ausgebreitet hatte, tauchte der alte Ferhat im Vestibül auf. Und der Mann, der zu schießen verstand, schoss ihm in die Lunge und in den Bauch und ließ ihn qualvoll sterben, an den Pflaumen
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