Buch des Flüsterns
Leute in den Ledermänteln hörten und sahen, wie sie nachts gegen Türen traten und sich die Menschen aus den Wohnungen so schnappten, wie sie zu dieser Stunde anzutreffen waren, im Pyjama oder in Pantoffeln, wie es meinem Onkel Ervant Hovnanian geschehen war. Sie lebten vor allem, indem sie sich und das, was sie um sich herum gesehen haben, befragten; so viele Konvois, welche die Massengräber füllten oder in den Sandmassen Mesopotamiens zugrunde gingen, so viele entfesselte Massen, so viel durchwühlte Erde und so viele dröhnende Himmel, es hätte ihnen als Antwort genügen können. Nur war diese Frage von Furcht begleitet, und selbst wenn sie altem Leid entsprang, verlangte die Furcht nach neuen Antworten, denn jede neue Furcht ging, im Unterschied zur Angst, mit einer neuen Hoffnung einher.
Gerade weil Großvater dies wusste, enthielt er sich einer Antwort und begnügte sich damit, die Schulter zu zucken. Sie erwarteten gar nichts anderes, sondern wären enttäuscht gewesen, wenn Großvater geantwortet hätte. Sie fragten sich gegenseitig, vor allem, um sich nicht so allein zu fühlen. Außerdem spürten auch sie wie die vor ihnen, dass die Antwort stets woanders zu suchen war.
Trotzdem gab es eine Antwort, und zwar von einem, von dem sie es am allerwenigsten erwartet hatten, nämlich vom alten Herrn Anton Ferhat. Sie saßen auf den Schemeln vor der Kapelle des armenischen Friedhofs jenseits der Bahnlinie und aßen in bunten Tellern Halva, welche die Pfarrersfrau aus geröstetem Grieß, in der Pfanne gebräunten Nüssen, Rosinen und Gewürznelken gemacht hatte. Etwas weiter weg befand sich die Familiengruft der Seferians, die noch nicht zum geheimen Treffpunkt des Kirchenkomitees geworden war. Und daneben waren zwei frische Gräber mit einem einzigen Holzkreuz am Kopfende, auf das mit gelber Farbe zwei Namen geschrieben waren.
Der alte Herr Ferhat war berühmt für seine Knauserigkeit. Er war keinesfalls der Einzige, der leidenschaftlich maßhielt, denn so gut wie alle alten Armenier meiner Kindheit, die Tellerchen mit gerösteter Halva in den Händen, scheuten Ausgaben. Aber Anton Ferhat war nicht irgendein Geiziger, er verfügte über einen äußerst kreativen Geiz, was ihm nicht nur dabei half, Krisen der Großzügigkeit zu vermeiden, sondern auch Argumente zu finden, mit denen er eine auf seine Prinzipien gegründete Welt als die großzügigste aller möglichen Welten darstellen konnte. Kurz gesagt, je tiefer er sich in seinen Geiz verkroch, umso angerührter war er von der eigenen Großzügigkeit. Er hatte sich eine strenge Buchführung über alle seine Güter angewöhnt und hätte um nichts in der Welt eine Minderung seines Vermögens akzeptiert, war von keiner Versuchung zur Mildtätigkeit zu erweichen. Aber sieh an, Anton Ferhat war der Erste, der mildtätig wirkte und die Antwort zu seinem Teil einer Opfergabe machte. Ohne jedoch seine Prinzipien zu verletzen, denn als Antwort schenkte er das Einzige her, das er, obwohl er es besaß, nicht in sein Buchhaltungsregister eingetragen hatte, also minderte er durch dieses Geschenk auch keinesfalls sein Hab und Gut, sondern sein Leben.
Was wird nun geschehen?, fragten sie, und als Erster antwortete der alte Herr Ferhat, und er tat dies nicht allein, sondern zusammen mit seiner Frau, die, so gut es eben ging, ihre breiten Hüften zusammenquetschte, um, früher, zusammen mit ihm auf den Sessel am schwer mit Leckereien beladenen Tisch und nunmehr an der Seite ihres guten Mannes ins Grab zu passen. Wenn wir jedoch ganz gerecht urteilen wollen, so hatte Dicran Bedrosian als Erster geantwortet, und zwar als die Fragen, die sich auf die neuen Zeitläufte bezogen, noch gar nicht gestellt wurden. Aber die anderen waren der Meinung, was Dic Bedrosian geschehen war, könne man nicht als eine mögliche Antwort auf die permanente Frage ansehen, sondern als eine zünftige Lehre für den Starrsinn, mit dem er sich stets auf die Seite der Bolschewiken geschlagen hatte. Deshalb schwieg Dic Bedrosian, der sich nun immer reflexartig die leere Stelle am linken Armgelenk rieb, als könne er noch immer nicht glauben, was ihm geschehen war, und nahm hin, dass als Erster der alte Anton Ferhat antwortete, der zwar seinerseits nun schwieg, aber angesichts der Tatsache, dass er tot war, wirkte sein Schweigen sehr viel beredter.
Der Alte hatte sich den Tod nicht so sehr durch seinen kreativen Geiz zugezogen, sondern vor allem durch das Symbol dieser Kreativität, den Pflaumenbaum
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