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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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ich, sagte Großvater. Wir sind nicht verwandt, wir haben uns hier in Rumänien angefreundet, er ist während des Krieges verschwunden, ich wusste überhaupt nicht, dass er in Amerika ist, fügte er scheinbar wie eine Entschuldigung hinzu und als begreife er erst jetzt aufgrund der Miene des Postangestellten, dass es übel ist, in Amerika zu sein. Also wissen Sie nicht, was er Ihnen geschickt hat? Keine Ahnung, sagte Großvater bangen Herzens, denn er kannte Misaks Leidenschaft für Waffen und traute ihm alles zu. Dann lassen Sie uns das Paket zusammen öffnen, und der Postbeamte begann, mit der Zange die Nägelchen herauszuziehen, mit denen das Holzkistchen verschlossen war. Er zerrte das zerknüllte Papier beiseite, steckte die Hand hinein und suchte. Da ist etwas Hartes drin, sagte er, und Großvater fiel das Herz in die Hose. Dann nahm er das Pferdchen heraus, und beide waren sie überrascht, jeder aus beinahe den gleichen Gründen. Der Beamte war unzufrieden, dass dies alles war, und nichts dabei war, das er für sich hätte behalten können, und Großvater war aus dem gleichen Grund erleichtert. In dem Augenblick, als er unterschrieb und das Paket mit dem Pferdchen ausgehändigt bekam, begann Großvater sich Gedanken zu machen. Ebenso wie sein Schwager Sahag Șeitanian, der auf der Bank zwischen den weichen Kissen, die bunten Kaffeeschalen vor sich, das Holzpferdchen mitten auf dem Tisch betrachtete. Sahag schwieg, aber er hatte die gleiche Frage auf den Lippen: Was wird jetzt geschehen? Was hier geschah, bewies, dass der Schrein mit den Antworten zu früh geschlossen worden war. Misak war eben jetzt erst angekommen, und seine Antwort war anders als die der anderen. Großvater Garabet erinnerte sich an die Szene vor vielen Jahren im Hof der armenischen Kirche von Focșani: Es ist das Zeichen der Rache, Sahag, hatte er seufzend gesagt, denn er hätte diese Worte gerne vermieden. Er ging ins Haus, stocherte an den Schlössern herum und holte das mit Bindfäden verschnürte Heft mit den Pappkartondeckeln hervor. Sie gingen noch einmal die alten Namen der Rächer und der Umgebrachten durch. Dann schrieb Großvater mit sepiafarbener Tinte in die Spalte der Vollstrecker: »Ein Pferd aus Holz«. In der Spalte der Umgebrachten ließ er den Platz frei und trug nur den Monat und das Jahr ein: Mai 1951. Dann nahm er das Holzpferdchen und untersuchte es genau. Dies ist nicht das Pferdchen, das Misak mir gezeigt hat, sagte er. Er hat noch eines gemacht, das genau so aussieht, das andere behält er noch bei sich ... Warum wohl?, fragte Sahag nur, um nicht der Antwortende zu sein. Dann schlug Großvater Garabet noch einmal das Heft auf, strich »Ein Pferd« durch und schrieb »Das erste Pferd« darüber.
    Das zweite Pferdchen kam ein Jahr später an, ebenfalls im Mai. Weil auf dem Paket nicht der Streifen »par avion« klebte, hieß dies, dass das Paket mit dem Schiff gekommen ist, befand Großvater Garabet, was etwa zwei bis drei Wochen in Anspruch nahm. Das Paket war somit Ende April aufgegeben worden, wenn die Armenier ihrer Toten bei den Massakern gedenken. Herrgott, Garabet, sagte Sahag, was sollen wir tun? Er hatte nur so für sich gesprochen, denn Yusuf, nunmehr sehr alt, widersetzte sich nicht mehr, wartete nur noch auf den Tod des anderen, um endlich, ohne ihn zu belauern, selber zur Ruhe zu kommen. Er schaute bloß melancholisch das Pferdchen an, das ihn an eine Welt erinnerte, in der sie beide von innen nach außen gestülpt worden waren wie ein Handschuh, und er, Sahag, war derjenige, der innen im Brustkorb tobte. Großvater Garabet, der stets auf eine Antwort vorbereitet war, wusste diesmal nicht, was er sagen sollte. Wer mag es diesmal gewesen sein?, fragte wiederum Sahag. Für Großvater war es der Tag der schwierigen Antworten. Auf der Liste, die Misak mir gezeigt hat, waren achtzehn Namen. Es kann jeden von ihnen getroffen haben. Er sollte sich beruhigen. Komm, wir schreiben ihm einen Brief, ihm oder General Dro. Gerne hätte er noch hinzugefügt, wenn er schon Lust habe, jemanden umzubringen, so möge er es doch mal mit den Bolschewiken probieren, aber er hielt sich zurück. Du bist verrückt, sagte Großvater. Wir haben keine Adresse, auf der Schachtel steht nur der Name und darunter der Staat, Kalifornien. Wie willst du ihn finden? Und schließlich, wie willst du ihm schreiben, und was willst du schreiben, alle Briefe werden geöffnet. Dann würde wieder der Irrsinn losgehen mit den Waffen des Generals.

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