Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
Vom Netzwerk:
werde. Worauf die Kiste mit den nicht zu Ende gesprochenen Antworten, der Schrein, den Steinmetzen anvertraut wurde, welche die Grabplatte abhoben und den Schrein in das Grab setzten, das sich der Mensch gemacht hatte, und worin niemand mehr begraben werden sollte.
    Arșag, der Glöckner, hatte keine Liste dabei, wie er sie stets für solche Gelegenheiten anfertigte, und der Pfarrer sprach keine Namen, derer ewig gedacht werden möge. Weil in dieses Grab die Antworten so vieler Leute gelegt wurden, die man in dem verdrehten Durcheinander nicht mehr voneinander unterscheiden konnte, beteten sie vor einem Massengrab und nahmen die Schuld auf sich, nicht lange genug am Rande jener anderen gebetet zu haben, die verstreut in der Sandeinöde lagen und eilig geschlossen worden waren. Und dieser Platz der Menschen, die nicht im gleichen Boden ihre Ruhe fanden, auf dem sie geboren worden waren, oder nicht in dem Grab beerdigt wurden, das sie für sich geschaffen hatten, wurde deshalb als Massengrab angesehen. Die Steinmetze fügten die Steine mit all dem darin eingeschlossenen und bewahrten Schweigen, Licht und Zeugnis, setzten die Platte wieder ein, meißelten die Zeichen in die Platte und glätteten den Putz in den Ritzen mit der Geschicklichkeit, über die nur sie verfügten. Worauf sich die Konvois schneller zerstreuten, als sie sich gebildet hatten, die einen gingen durch das Friedhofstor den Weg zurück, übrigens der einzige Weg, um zurückzukehren, andere lehnten wartend an den Steinkreuzen, und wieder andere verzogen sich wie Mairegen in den Boden.
    Und so, der Schrein einmal beerdigt, erwies sich, dass Antworten ebenso sterben wie die Menschen und dem Leben Platz machen, damit es weitergehen kann.

ZWÖLF
    D ie Geschichte der Menschen ist zu großen Teilen auch eine Geschichte der Pferde. Bloß erwähnen die Chroniken zumeist nur die Menschen, was dazu führt, dass die Geschichte nicht nur ungerecht, sondern auch unklar wird.
    Wenn die Chroniken die Kriege zu Ende erzählt haben, kommt jede Armee und sammelt ihre Toten ein. Auf dem Schlachtfeld bleiben nur die umgekommenen Pferde liegen. Schaut man sie sich an, wie sie unbegraben erstarren, die Mäuler aufgerissen, blutigen Schaum an der Trense, die Bäuche aufgeplatzt, das Schienbein gebrochen, so könnte man den Eindruck bekommen, auf jenem Feld habe sich nicht etwa ein Krieg zwischen Menschen, sondern ein Krieg zwischen Pferden abgespielt.
    Die Chroniken schreiben über die Kriege zwischen Armeen und über umgebrachte Menschen, denn dafür können sie jederzeit Erklärungen beibringen, auch können sie bei jeder einzelnen Schlacht einigermaßen genau bestimmen, wer als Sieger daraus hervorgegangen ist. Über umgebrachte Pferde könnte man nicht das Gleiche sagen. Man könnte keine Begründung für ihren Tod finden, vielleicht nur die, dass die Menschen in ihrer Grausamkeit sich häufig selbst nicht genügen. Für Kriege zwischen Pferden, wie sie die verlassenen Schlachtfelder nahelegen, gibt es keinerlei Rechtfertigung, niemand kümmert sich darum, die umgebrachten Pferde zu preisen, noch nie wurde der unbekannte Held aus den Reihen der Pferde gewählt, obwohl sie, für die Sache anderer gekämpft und gestorben, jedes Recht auf Heldentum hätten, entzündet niemand eine Kerze für sie, allein das hungrige Feld mit den krächzenden Schwärmen entfacht an ihrer Lagerstatt schwarze Vögel.
    Man hätte deutlich mehr über die Welt verstehen können, wäre über die Geschichte der Menschen und die Geschichte der Pferde gleichermaßen geschrieben worden. Über die Pferde, die aus Leibeskräften die Sturmkanonen ziehen, in erschöpfenden Märschen Pässe überqueren, Vertriebene oder Flüchtende in Konvois begleiten, auf ihren Rücken ganze Völker herbeitragen und sich mit anderen vermischen lassen, wie von Sinnen mit dem durchbohrten und tödlich getroffenen Reiter über die Schlachtfelder rasen, eingeschirrt die Kampfwagen der Sieger ziehen oder ohne Halfter, aber beladen mit Verwundeten und den Quersäcken der Besiegten mitlaufen, immerzu an der Spitze der Armeen vorangaloppieren, ohne Panzer und ohne das Recht, verwundet zu werden, denn ein verwundetes Pferd ist ein totes Pferd. Die Pferde zählen immer zu den Verlierern, niemals zu den Siegern. Außerdem liegt es nicht in ihrer Absicht, jemanden zu besiegen. Die einzige Art, in der dieser Gladiator der Geschichte in einer Schlacht siegreich sein kann, ist, am Leben zu bleiben. Die Chroniken schreiben vor allem

Weitere Kostenlose Bücher