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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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zufällig hier angetroffenen Burg – aus Sand. Es ist an der Zeit!, kündigte Großvater beim Blick auf die überquellenden Regale an. Für uns Jungen war dies das Signal, dass es ans Glaswaschen ging. Die grünen und gelben Ölflaschen, die Einmachgläser, Milchflaschen, manchmal sogar eine Sektflasche, die war am wertvollsten. Wir schrubbten mit der Bürste in den Flaschen herum, reinigten sie von Ölflecken, klebrigen Saucen, Schimmelresten. Damit sie angenommen wurden, mussten die Glaswaren am Boden eine Inschrift aufweisen, vier Großbuchstaben im Relief, fehlten diese, wies Mercan sie zurück: STAS. Das heißt Staatsstandard. Die ohne STAS waren nicht gut. Auch wenn sie alt aussahen oder aus dem Ausland kamen, sogar die allerschönsten. Seltsam geformt und modelliert. In meiner Kindheit gab es nur Raum für STAS-Dinge, die allesamt gleich waren. Die man nur aufgrund ihrer Gleichheit beurteilte. Die Flaschen und Gläser waren auf dem Wandbrett aufgereiht. Großvater prüfte sie der Reihe nach. Diese waren gut, ohne angeschlagene Stellen, Sprünge, Ölflecken oder Etikettenreste. Die anderen nicht. Und wenn die ohne STAS oder die angeschlagenen einen zu engen Hals hatten, als dass man sie für Kompott oder Tomatensauce hätte gebrauchen können, brachten wir sie an einen finsteren Ort, der DCA hieß, also Sammel- und Ankaufstelle für Altwaren. Dort gab es ein Durcheinander von Scherben, haufenweise abgenutzte Kleider, Stoffe und Gewebe, auseinandergefallene vergilbte Bücher und die verrosteten metallischen Skelette von Maschinen. Auf den nahen Feldern grasten die Pferde der Zigeuner, die mit ihren Wagen angekommen waren, all das Zeug aufzuladen. Hin und wieder tauchten aus den Haufen unnützen Zeugs die großen flachen Knochen von Lasttieren auf. Einmal sah ich dort einen von der Sonne gebleichten Pferdeschädel. Die Pferde nebenan weideten aber friedlich. Solange es Gras gab, fühlten sie sich geschützt. Entweder Gras oder Tod. Auf dem Gelände mit den verkommenen Haufen, die immerzu von den Schaufelgabeln der Fuhrleute durchwühlt wurden, wuchs hartnäckig und unbekümmert Gras.
    Mercan kaufte Flaschen und Gläser. Er lebte zwischen den Stapeln, die unaufhörlich anwuchsen und bei starkem Wind wie ein Silberwald tönten. In der Stadt war er der Erste, der zunehmenden Wind spürte. Ich weiß nicht, ob er groß oder klein war, denn ich habe ihn nie anders als sitzend gesehen. Ich glaube, er war eher klein, denn sonst hätte sein Kopf nicht das Bedürfnis gehabt, dermaßen groß und lang zu werden. Er hatte große Nasenlöcher und Schlappohren, die extra so beschaffen waren, damit sie sich die Luft und ihre Geräusche einverleiben konnten. Als Herrscher über ein Volk von Bläsern lauerte er mit den riesigen fleischigen Trichtern, die anstelle von Nase und Ohren an ihm hingen, auf ihre Töne. Mit flatternden Nüstern erstarrte er. Richte deinem Großvater aus, dass der Frühling kommt, sagte er. Ich rannte schnurstracks nachhause. Der Frühling kommt, keuchte ich, Mercan hat es gesagt. Endlich, Gott sei Dank, freute sich Großvater. Und brachte die Setzlinge im Hof aus. Und ein andermal: Dies ist der Nordwind. Morgen oder übermorgen schneit es. Großvater wartete nicht, dass man es ihm zweimal sagte, auch wenn wir erst Mitte November hatten. Sogleich packte er die Rosenstöcke ein.
    Wenn die Luft ganz leicht war, hier wie dort, und auf diese Weise Ruhe im Himmel eingekehrt war, prüfte Mercan jede Flasche und jedes Weckglas ganz aufmerksam. Er fuhr mit dem Finger über ihre Ränder, erhob sie ins Licht, roch daran mit gierigen Nüstern. Zwei, drei gab er mir zurück. Die anderen stellte er ringsum hin. Warum?, versuchte ich zu widersprechen, denn ich wusste, wie sehr sich Großvater in seinem blinden Krieg gegen Mercan über jede abgelehnte Flasche ärgerte. Er aber folgte dem Gesetz nach seinem ureigenen Recht und gab nie nach. Und diese?, probierte ich es verzweifelt. Er schaute auf und führte den Finger an die Lippen. Sssst! Und nach einigen Augenblicken: Ein Vogel fliegt. Um ihn zu erweichen, half ich ihm, die Flaschen in die Kisten zu packen. Stell diese zu den Schmetterlingen, sagte er und zeigte auf die Stapel. Das andere zu den Vögeln. Ich schaute verwundert das leere Einmachglas an. Wo ist der Schmetterling? Er schnupperte lange und mit geschlossenen Augen, wie es die Weinverkoster über dem Glasrund tun. Hier ist ein Schmetterling drüber geflogen, fügte er unbeirrt hinzu. Tu also, was ich gesagt

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